Womöglich war sie zu jung gewesen.
Wobei das ja relativ ist, denn ist man mit 19 noch zu jung?
Während des elendig langen Überseeflugs nach Rio war Jana C. Neuenstein zuerst hibbelig vor Freude, ihre beste Freundin wiederzusehen, die dort lebte, weil es deren Vater beruflich dorthin verschlagen hatte.
Der positiven Energie aber folgte die Langweile, danach kam die Müdigkeit, und kurz vor der Landung war sie eben mal eine halbe Stunde wieder wach. Innerlich aufgekratzt, physisch noch im Halbschlaf torkelte sie die Gangway lang, reihte sich im Lärm und Geschrei am Kofferband ein, rupfte eben den, den Koffer, an sich, kämpfte sie durch den Flughafen, trat hinaus ins Freie und kippte in der Tropenhitze aus den Pantinen.
Vage erinnerte sie sich, zuvor gewinkt zu haben, als sie Miriams, von blonden Locken umrahmtes Gesicht im Menschengewühl entdeckt hatte.
Miriams Verblüffung ob ihres Umkippens hatte sich auch in ihre Wahrnehmung gefräst.
Aber dann war da nichts mehr, und als sie erwachte, glotzte sie auf die kahlen Wände der Sanitätsstation. Wackelig setzte sie sich auf, nur um in Miriams besorgte Miene zu gucken. Die strich sich eine Haarlocke aus dem Gesicht und lächelte entschuldigend.
„Man gewöhnt sich dran“, sagte sie.
Später, zehn Jahre später, döste Jana C. Neuenstein in einem Flieger neben ihrem Freund auf dem Weg nach Miami. Die Gangway, die sie später herunterschreiten würde, war eine im Freien. Kein klimatisiertes Flughafeninneres, keine Schonfrist. Sie kippte sofort aus den Latschen, landete hart auf dem Steiß und nahm die letzten sechs Stufen holpernd auf dem Allerwertesten rutschend, derweil um sie herum Schreckenschreie und Hilfeangebote miteinander wetteiferten.
Das jugendliche Alter taugte nichts mehr als Entschuldigung.
Es ging ja auch weg.
Wie Miriam 10 Jahre zuvor schon richtig festgestellt hatte: Man gewöhnte sich rasch daran.
Und während sie die Sanitätsstation des Miami international Airport von innen kennenlernte, erinnerte sie sich gerne an damals. An Miriam, die sie anschließend ununterbrochen quatschend in ihr Haus chauffiert hatte, das in einem Wohlstandghetto mit Zaun und Wachpersonal lag. Wie sie die Wagen im Zickzack an lahmeren Kisten, alles rostige Vw-Käfer, lotste, weil sie zwei Monate zuvor ihren Führerschein hier in Rio gemacht hatte.
Hier und jetzt, in Miami und im Anschluss, nachdem sie versichert hatte, dass es schon wieder ginge, schleppte sie sich an der Seite ihres Freundes durch den eiskalten Flughafen hinaus in die tropische Hitze, vorbei an den wartenden Passagieren, die nach Havanna wollten und die einzelne Hühner in hölzernen Käfigen als Handgepäck mit sich führten.
Danach ging es eigentlich.
Umgefallen war sie nie wieder, was die Vermutung nahe legt, dass es doch das Alter gewesen war.
Seufzend lehnt sie sich in ihrem Korbstuhl zurück und saugt am Strohhalm ihres Sundowners, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, das ihrem Gast gilt.
Sonia, blutjung, käseweiß und leichenblass, weil sie sich noch nicht von ihrem Aufenthalt in der Sanitätsstation des Flughafens Rom erholt hat.
Die Zikaden kreischen, die Sonne wird gerade vom Meer verschluckt, als allabendliche Verliererin gegen die silberne Scheibe des Mondes, der über den Golf von Neapel hängt, den sie von hier aus sehen können, 120 Kilometer weiter nördlich. Küsten haben es an sich, nie in geraden Linien zu zu verlaufen.
Sonia fächelt sich Luft zu und leert ihr Wasserglas in einem Zug. „Dir ist das auch passiert?“
„Sagte ich ja gerade.“, lächelt Jana milde.
„Und da lebst du hier?“ Sonia macht eine ausladende Geste, die niemandem und nichts bestimmtem gilt. „Meine Wetterapp meldet eine Luftfeuchte von 87 %.“
„Wetterapp“, gibt Jana in einem Tonfall von sich, der ein wenig nach Verachtung klingt.
„Es liegt an den Sümpfen. In den pontinischen Sümpfen herrscht Tropenhitze. So ist das eben.“ Sie klatscht sich in den Nacken, um einer Mücke den Garaus zu machen, ehe sie den Stuhl zurückschiebt, sich hochstemmt, um aus dem Haus eine neue Flasche eisgekühltes Wasser zu holen. „Aber alles andere entschädigt dich! Du wirst sehen!“, ruft sie hinaus auf die Terrasse. Gegen das Geplärr der Zikaden und gegen das Rauschen der Brandung.
Die Sonne hat kapituliert und kühlt sich in den Wogen, in denen sie versunken war. Sonia schaut auf den Mond, der alles in ein tieferes silbernes Licht taucht. Ein Motorini knattert den Berg hinauf zum Leuchtturm und wird mit dem Verschwinden immer leiser.
Sie seufzt, schraubt sich hoch und torkelt, noch benommen von der schwülen Hitze und dem noch nicht lange zurückliegende Kreislaufzusammenbruch, zur Brüstung, mit der der Garten umzäunt ist, damit niemand hinunter stürzt.
Unten rollen die Wellen mutwillig gegen den Fels, als spielten sie. In der Ferne leuchten die Umrisse der pontinischen Inseln und irgendwo zwischen ihnen und diesem Garten, in dem Sonia unter einer Schirmpinie steht, gleitet ein Segelboot dahin, wie ein Blütenblatt im Wind.
Und sie weiß: Sie wird sich daran gewöhnen.