Als sie erwachte, war Chaos im Kopf. Verwirrt blinzelnd setzte sie sich auf, und versuchte, zu eruieren, was los war, und kam bei wirren Träumen an.
Ein Durcheinander von Bildern, das sie an irgendetwas erinnert hatte, das sie schon lange nicht mehr zu packen bekam.
Sie schob das Federbett zur Seite, stellte die Füße auf den von der Fußbodenheizung erwärmten Parkettboden, legte die Hände aufs Gesicht, beschwor die Traumbilder hinauf.
Der Tisch. Jemand sprach über ihren schwarzen Lacktisch im Wohnzimmer.
Dann Bilder von zerstörten Städten, sie mittendrin, ein Helm auf ihrem Kopf, einen Presseausweis um den Hals.
Der Kameramann.
Und…
Michael.
Michael? Du liebe Güte!
Sie schüttelte sich. Wie konnte sie von einem Ex träumen, den sie 25 Jahre nicht mehr gesehen hatte?
Sie waren ohnehin nicht lange zusammen gewesen. Er war ihre zu…
Ja, was, Talvi?
"Frei", wisperte sie. "Er war mir zu frei gewesen."
"Was?"
Sie drehte sich zu dem Brummen unter dem anderen Federbett um, fand ihren Mann, Lars, mit verklebten Augen, der sie müde ansah. "Hast du was gesagt?", grummelte er.
Sie schüttelte den Kopf, stemmte sich hoch, wickelte den Bademantel um sich.
Frei, dachte sie. Sagte aber: "Ich steh' schon mal auf und deck' den Frühstückstisch."
Aus dem Gewühl des Bettes ertönte irgendein Geräusch, das man gutwillig als Zustimmung interpretieren konnte.
Im Flur blieb sie stehen, lauschte. In beiden Kinderzimmern herrschte Stille, aber die konnte trügerisch sein, weil Emmas ewiges Getippe auf dem I-Phone nun mal leise vonstatten ging. Sie fragte sich nicht, was es dauernd mit den Freundinnen zu kommunizieren gab, schließlich war sie auch mal jung gewesen, wusste, dass es Unsinn war, aber für Fünfzehnjährige von immenser Bedeutung. Sie hatten damals telefoniert, um sich zu erzählen, dass sie den Müll raus gebracht oder eine besondere Klamotte bei H&M gekauft hatten.
Schlafwandlerisch war sie in der Küche angekommen, drückte an der Siebträgermaschiene herum, wählte ihren Kaffee, schob das Sieb in den dafür vorgesehenen Teil der Maschine, die zu mahlen anfing.
Frei.
Die Traumbilder.
Du hattest Journalistin werden wollen. Deshalb die zerbombten Städte. Und du mittendrin.
Apathisch packte sie den Siebträger drehte ihn an anderer Stelle in die Maschine, drückte den nächsten Knopf, und guckte zu, wie der Kaffee in die Tasse lief.
Supermom stand auf der Tasse, mit der sie ins Wohnzimmer schlurfte, wo sie apathisch in den diesigen Tag schaute, auf einen gepflegten Garten, in dem die Gartenmöbel auf der Terrasse unter der dafür vorgesehenen Schutzplane aufs Frühjahr warteten. Der Kirschbaum musste noch geschnitten werden, aber dafür hatten sie einen Profi bestellt, der im Januar kommen würde.
Frei.
Komisch, dass sie an Michel gedacht, von ihm geträumt hatte, weil er ihr gar nicht so viel bedeutet hatte.
Damals.
Aber als sie in das hellgraue Sofa sank, die Tasse fest umklammert, als wollte sie sich zwingend daran erinnern, dass sie Supermom war, erinnerte sie sich, dass es nicht stimmte. Die kurze Zeit, die sie zusammengesessen waren, drei Monate, war eine gewesen, in der sie sich zerrissen gefühlt hatte. Zwischen ihrer Sehnsucht, geliebt zu werden, Sehnsucht nach einem Heim, das sie als Kind nicht gehabt, und das sie unbedingt nachbauen wollte. Nach dem Vorbild ihrer Freundinnen, die in intakten Familien in Reihenhäusern gelebt hatten.
Und ihrem unbändigen Drang nach Freiheit, dem Willen, in die Welt zu ziehen, und den anderen zu beweisen, was in ihr schief lief.
Journalistin zu sein.
Beides zugleich war unmöglich. Das Heim, die Sicherheit, Geborgenheit mit Michael unmöglich.
Seine Dynamik. Medizin hatte er studiert. Einen Jeep hatte er gefahren, ein Mordsding, auf dem Renegade gestanden hatte, und exakt das war er gewesen. Sie fühlte seine Umarmung, in diesem Moment, hörte seine Stimme.
"…Ärzte ohne Grenzen."
"Ja", lacht sie. "Dann sehen wir uns wenigstens in Krisengebieten."
"Wild romantisch." Er wirbelt sie hoch, sie quietscht, als er, mir ihr auf dem Arm, in den See stürmt.
"Kalt!", kreischt sie. Und er lacht. Dieses ungestüme Lachen, das sie fasziniert.
Fasziniert hatte.
Tränen laufen ihr zu den Wangen hinab.
"Ich hatte Angst", wisperte sie. "Angst vor der Freiheit."
Apathisch schob sie den Krempel auf dem Tisch zusammen, der sich am Vorabend angesammelt hatte, als sie einen Film auf Netflix gesehen hatten. Leere Gläser. Eine Chipstüte, halb voll. Die Haarklammer, die sie beim Filmgucken gelöst hatte. Im Türrahmen stand plötzlich Emma. Im Schlafshirt, das lange blonde Haar so wirr, dass die Locken in die Freiheit strebten.
Hektisch wischte Talvi die Tränen weg. Am Ende gab es Fragen, wenn sie bemerkt würden, aber zugleich wusste sie, dass es niemand bemerken würde, Emma schon mal gar nicht, die drehte sich derzeit ausschließlich um sich selbst.
Mit den Locken war Emma wunderschön. Aber sie glättete sie schon noch. So wie alles im Leben geglättet war. Und schön einheitlich aussah. Das Haus gebaut, wie es zu den anderen Häusern des Neubaugebietes passte. Der SUV in der Garage, der E-Kleinwagen vor derselben, wie überall, in der ganzen Straße. In den Häusern nebenan erwachten gerade Teenager und Kleinkinder. Überall Supermoms.
Sie setzte ihr Supermomlächeln auf. "Guten Morgen, mein Schatz."
"Morgen", maulte das Töchterlein.
Weil Teenager immer maulten.
Apathie, dachte Talvi, die sich hochstemmte, um endlich den Frühstückstisch zu decken. Alles ist eingefroren in Apathie.