Den ganzen Sonntag war Falk mit Sina zusammen gewesen. Der Schnee war zuerst leicht vom Himmel gerieselt, hatte dann zugelegt und auf den Straßen und Bürgersteigen eine feste Schneedecke gebildet, auf der sie, Hand in Hand, Anlauf genommen, geschlittert und gelacht hatten. Jauchzend waren sie sich in die Arme gefallen, hatten sich festgehalten, bis es in einen zuerst zaghaften und dann leidenschaftlichen Kuss mündete, mit aller Liebe, zu der Sechzehnjährige fähig sind.
Also verflucht viel. Das konnte ich sehen, als ich in meinem Wagen im Finsteren die Straße zu unserem Haus entlang gezuckelt war.
Fluchend und zeternd, denn trotz Winterreifen hasste ich dieses Wetter, insbesondere im Stockfinstern. Als ich beim Näherkommen in dem symbiotischen Knäuel aus teuren Daunenjacken und Mützen zuerst Sinas langes dunkles Haar erkannte, dann meinen Sohn, nahm ich mir vor, wegzugucken, weil es für die beiden bestimmt nichts Peinlicheres gäbe, als zu wissen, dass ihre Innigkeit von irgendeinem Elternteil beobachtet worden war.
Aber meine Karre war knallrot, die Straße gering befahren, sodass sich Falks Wortkargheit von selbst erklärte, als er eine halbe Stunde nach mir mit geröteten Wangen in sein Zimmer schlurfte.
Erst am nächsten Morgen, kurz bevor wir ich zur Arbeit, und er zur Schule aufbrachen, erlitt ich einen Schreikrampf, aber ich greife vor. Falks Telefon hatte geläutet, als ich gerade in die Schuhe schlüpfte. Ich hörte ihn murmeln. Dann schloss er mit dem Satz: „Ich werd’s ihr sagen. Ja, ciao.“
Meine Brauen schossen in die Höhe.
Was sagen?, dachte ich, als der Blondschopf verlegen in der Diele vor mir stand.
„Spuck’s aus“, verlangte ich, und der absurden Zeit zum Trotz, erwischte mich die Nachricht kalt.
„Sina hat ja samstags Volleyball.“ Er kratzte sich an der Nase.
„Und?“
„Da is‘ so ein Fall.“
„Geht das auch konkreter“, herrschte ich ungeduldig, derweil ich nach meiner Jacke griff. „Cowboys will schon lange keiner mehr, und normalerweise glänzt du doch gerade durch deine Eloquenz.“
Ich wickelte mir den Schal um den Hals.
„Im Sport gab’s nen Omikronfall und Sina muss jetzt getestet werden. Aber auch, wenn der PCR negativ ist, muss sie in Quarantäne. Weil es Omikron ist!“
Mir entging völlig, dass er mit jedem Wort lauter geworden war, um das Tränenerstickte seiner Stimme in Wut zu wandeln, weil ich mit einem Mal Herzrasen bekam. Ich plumpste mit dem Hintern unschön auf die Holztreppe, die zum Schlafzimmer hochführt, und keuchte. Entgeistert stierte ich ihn an, der im Rahmen zum Wohnzimmer stand.
Er wusste, was es bedeutet. Wenn Sina positiv war, mussten auch wir in Quarantäne. 14 Tage lang.
Über Weihnachten.
In meinem Kopf raste ein Karussell voller bunter Figuren. Pferde und Wagen und in jedem davon eine Verabredung. Die Hotelzimmer, die ich für Familienangehörige aus dem Süden gebucht hatte, die Gans, der Wein, die Einkäufe. Ich hatte nicht einmal alle Geschenke.
„Wir kriegen das hin“, ächzte ich beim Anblick seiner verzweifelten Miene.
Um es abzukürzen, Sina war negativ. Als Mädchen durchaus positiv, im Gegenteil zu deren Stimmung, und auch die Falks sank mit jedem Tag, den er sie nicht treffen konnte.
Sie telefonierten, skypten, telefonierten, chatteten, und wenn ich ehrlich war, wunderte ich mich über die relative Geduld des Mädels, denn mich hätte man mit siebzehn nicht so lange wegen gar nix einsperren können. Es kommt einem ja vor, wie nichts. In dem Alter.
Am Mittag des 24 ten erwischte ich Falk dabei, wie er die silberne Halskette mit dem Herzanhänger, die er ihr gekauft hatte, verträumt beguckte. Mir fielen schon keine tröstenden Worte mehr ein, deshalb beschränkte ich mich auf eine Geste. Meine Hand legte ich ihm sanft auf den Oberarm. Er schaute mich an.
„Mama?“
„Hm?“ An ihm vorbei huschte ich zu seinem Kleiderschrank, in dem ich die frisch gebügelte Wäsche verstaute.
„Ich hätte da einen Wunsch.“
Mein Kopf ruckte rum. Ich wedelte mit der freien Hand. „Das ist ein gefährlicher Wunsch, Falk. Das ist teuer und gibt einen Scheißärger, wenn sie euch erwischen.“
„Aber sie hat auch heute Geburtstag“, begehrte er auf. „Ich will sie doch nur sehen.“
Ich seufzte. Meine Schultern sackten hinab. Ich musste nachdenken.
„Ich lasse mir was einfallen“, versprach ich. „Mach keine Dummheiten. Laß‘ mir Zeit.“
Auf der Unterlippe kauend hockte ich 5 Minuten später mit dem Telefon in der Hand auf dem Sofa. Dann traf ich eine Entscheidung. Ich wusste nicht viel über Sina, außer, dass sie mit ihrem Vater, einem attraktiven Mann, der irgendwas mit Medien machte, alleine lebte, und für ein Kind eines Vaters mit Medien war sie erstaunlich normal. Einige Male war ich dem Mann bereits begegnet, bevor die Kinder ein Paar geworden waren. Bei Schulfesten und so. Ich wählte die Festnetznummer, die bei uns schon als Wahlwiederholung an oberster Stelle stand, und erstaunlich, Sinas Vater ging dran.
„Hallo“, grüßte ich freundlich. „Hier ist Jana, die Mutter von Romeo Montague, der wahnsinnig gerne…“
Weiter kam ich nicht, sein Lachen, ein dunkles warmes, grätschte mir dazwischen.
„Ich verstehe schon. Julia weint sich schon die Augen aus. Aber wie machen wir das?“
„Sie haben einen Garten?“, fragte ich listig.
„Ja, und ihr Zimmerfenster geht raus auf die Terrasse. Wann?“
Oh, fein, erklären musste ich nichts mehr. „In 20 Minuten könnte er da sein.“
„Ich mache den Heizpilz an, und setze Teewasser auf.“
„Ich habe noch eine Flasche Bratapfelpunch“, wandte ich scheu ein. „Ich meine, sie wird siebzehn und er hat auch nächsten Monat Geburtstag, und es ist…“
„Kein Problem. Ich halte den Topf parat.“
Ich beendete das Gespräch, stopfte meinen verwirrten Sohn in seine Jacke und schob ihn draußen schlitternd zu meinem Auto, an dem ich den losen Schnee von allen Scheiben wischte. In Fragmenten erklärte ich ihm, was wir ausgemacht hatten. Seine Augen leuchteten. „Echt?“
„Ne, Falk. Natürlich echt. Hast du das Geschenk?"
Ehe er einstieg, tastete er sich die Jacke ab, nickte dann, und auf dem ganzen Weg spannten seine Wangen vor Glück. Den Wagen stellte ich in zweiter Reihe ab, stapfte zur Haustür, die direkt aufgerissen wurde.
„Signora Montague“, strahlte mich der Mittvierziger mit den kecken dunklen Locken an. „Das Haus Capulet gibt sich die Ehre.“
Hinter dem charmanten Burschen reckte Julia, respektive Sina strahlend den Kopf, winkte hektisch und rannte in ihr Zimmer. Ich drückte dem Mann augenzwinkernd die Flasche Punch in die Hand.
„Der junge Mann bitte durch den Garten“, lotste Sinas Vater. Ich ging nur ein ein kurzes Stück mit, und staunte. Vor dem hell beleuchteten Fenster zu Sinas Zimmer, das ihr leuchtendes Gesicht umrahmte, stand eine weich gepolsterte Liege mit zwei ordentlich gefalteten Lambswooldecken direkt unter dem Heizpilz, neben dem ein Tischchen stand, auf dem später der dampfende Becher Punch stünde.
Ich musste sehen, dass ich wegkomme. Von wegen peinlich und so.
„Ruf einfach an, wenn ich dich abholen soll“, rief ich, stakste über die Wiese und zurück über den kleinen Jägerzaun, freudig hoffend, Falk würde nicht singen.
Schade, dachte ich auf dem heimweg, dass ich Signore Capulet mindestens eine Woche nicht würde treffen können. Aber vielleicht ergäbe sich ja eine Verabredung, wenn ich Falk abholte.