„Was, zur Hölle…?“ Damiano latscht voll in die Eisen. Was sich vor seinen Augen abspielt, ist ungeheuerlich.
„Hölle ist ein guter Einwand.“ Luisa reißt die Tür auf, und steht wenige Sekunden später in glutheißer Hitze mitten auf dem Asphalt.
Der Asphalt, aus dem Dampf emporsteigt.
Sie rümpft die Nase. „Nach Schwefel riecht es auch.“
Sie wirbelt zu ihm herum. Er steht, mit einer Hand an der Wagentür, vor dem Auto, und starrt ungläubig auf den Boden, dem stinkender Dampf entweicht. „Und jetzt?“
Achselzuckend sieht sie geradeaus. „Keine Ahnung“, murmelt sie, fokussiert aber mit festem Blick den Berg, der exakt vor ihnen liegt. So harmlos, so unscheinbar, und doch eine ständige Bedrohung. „So lang es keine Asche regnet, sollten wir uns nicht beirren lassen.“ Dynamisch schwingt sie in den Wagen zurück, aber er zögert.
„Ich weiß nicht. Ich finde, wir sollten umkehren.“
„Und dann?“ Trotzig verschränkt sie die Arme vor der Brust. „Hast du vergessen, wohin wir unterwegs sind? Und warum?“
Resigniert wirft er einen Blick in den Himmel, der von keiner Wolke verunziert wird. Kaum vorstellbar, dass es nur hundert Kilometer nördlich regnet.
„Okay“, presst er raus. Weiter nach Süden.“
Circa 1800 Kilometer nördlich, zur selben Zeit:
Wie eine Piratin ist sie heimgedüst, um sich nur rasch umzuziehen, damit sie zur Physio nicht diese dämlichen Büroklamotten trägt. Tim trifft sie vor der Haustür, als sie gerade energisch die Fahrertür zuwirft.
„Ah, gut, dass ich dich noch erwische.“ Sie lässt sich an der Taille umfassen, erwidert den Kuss. „Ich zieh‘ mich nur flott um, dann bin ich zur Physio. Gegen sieben bin ich zurück, aber Sonia wollte vorbeikommen. Kann sein, dass sie vor mir da ist.“
„Okay. Ich bin auch nur Getränke holen.“ Er stapelt den dritten Wasserkasten im Kofferraum seines Wagens. „Irgendwer ist schon…“ den Rest verschluckt er. Irritiert schaut er hoch. „Was ist das denn?“
Ihre Brauen schießen in die Höhe. „Keine Ahnung.“ Vorsichtig verreibt sie die Partikel, die auf ihrem olivgrünen Cabrio landen, mit dem Finger. „Das ist…“, flüstert sie. Dann lauter: „Das ist Asche.“
„Du lieber Himmel.“
Aber Jana hat sich flott wieder gefangen. Tänzelnd entschwindet sie im Haus. Dabei ruft sie noch: „Wenn wir jetzt in Neapel wären, würd‘ ich mir Sorgen machen!“
In diesem Moment geht ein Ruck durch die Hölle. Unterhalb der Brücke, nahe beim Ufer des Blutstroms klammert er sich an einem der Pfeiler fest, der bereits erste Risse aufweist. Er schöpft Atem, sieht sich um. Das gesamte Höllenzentrum ist in Aufruhr. Alle packen ihre Sachen, um aus Dis zu verschwinden, vermutlich, um sich in einen der äußeren Kreisen in Sicherheit zu bringen.
Ihr Ahnungslosen, denkt er. Nichts wird bestehen bleiben. Wir haben das angezettelt, um das System von einer der schwachsinnigsten Erfindungen zu befreien.
Ein Blick ins Flussbett, und der erkennt, dass es bloß noch ein Sumpf ist. Schmutzig rostfarbenes Wasser, und ein ekelerregender Gestank.
Erleichtert nimmt er wahr, dass das Beben eine Pause macht. Eine angetäuschte Pause, denn nach weniger als fünf Sekunden geht es plötzlich richtig los. Eine Kakophonie brachialer Geräusche. Schreien, Bersten und Brechen, untermalt vom allem überlagernden Grollen aus dem Herz der Finsternis.
Er schließt die Augen. Verflucht, dass es nur möglich war, indem er selbst hinunterstieg.
Seine Lider klappen auf. Mit silbrigen Diamantenaugen sieht er sich um. Die Linien haben sich überall verschoben. Wo oben und unten ist, nicht mehr verifizierbar.
„Heilige Scheiße“, murmelt er, greift nach oben, wo sich jäh ein Teil des Treppenhaueses seiner Burg Dis befindet, die in Auflösung begriffen ist und nur noch aus Trümmern besteht. Er bekommt Griff, zieht sich hoch. Auch wenn der Boden wankt, schüttelt er sich, wischt sich das lange blonde Ponyhaar aus der Stirn, atmet einmal tief durch und versteht es.
Das hier ist die Treppe, die nach jeder Etage auf einem brüchigen Plateau endet, und teils noch von Fragmenten steinerner Mauern umgeben ist.
Doch es ist die Treppe, die ihn nach oben führen wird.
Der Weg wird kein leichter sein.
Er macht einen ersten Schritt.
Das letzte Stück, das sie fahren mussten, ist sie froh gewesen, dass sie einen Jeep haben. Den Spazierpfad für Touristen und Geologen rumpeln sie hoch, nähern sich der Kuppel, die tief eingesunken, nur spärlich bewachsen ist. Obwohl sie fest damit gerechnet hat, entsteigt ihr kein Dampf.
Im Augenwinkel sieht sie Damiano auf der Unterlippe kauen. Flüchtig lächelt sie ihn an. Er hält sich tapfer, hatte sich vom kleinen Feigling zum treuen Freund ihres Mannes Lysander gemausert, und zum tapferen Gefolgsmann.
Lysander übrigens, der schon hier ist, und das alles ins Rollen gebracht hat, um gemeinsam mit dem besten Freund dem Unsäglichen ein Ende zu bereiten.
Mit Flecken zerriebener Asche auf den Wangen sprintet er, über Wurzeln und ausgedörrte Büsche springend, auf sie zu.
„Runter!“, ruft er, gestikuliert entsprechend, und sie nähern sich ihm gebückt.
„Wieso“, stottert Damiano. „Hier ist doch nichts los? Ich meine…“
„Da unten ist die Hölle los. Es kann jeden Moment…“
„Die Hölle.“ Luisa hält sich den Bauch. „Der war witzig.“
Halb abwesend haucht er ihr einen Kuss auf die Wange. Als Nächstes spähen sie gemeinsam in den Schlund.
Da kommt etwas nach oben. Ein ganzes Gebäudeteil auf einer Lavablase, aber zugleich wird es immer wieder blubbernd runter gezerrt. Und doch schiebt es sich immer wieder ein Stückchen weiter hoch, bis sie endlich sein Gesicht sehen.
Ein helles, entsetztes Gesicht, das zu ihnen hoch starrt, und erneut verschwindet.
Und sich wieder, wankend, hüpfend und schlingernd, nähert.
Lysander wirft sich auf den Bauch, streckt ihm, dem Freund die Hände entgegen.
„Jetzt!“, gellt er, und er bekommt die Hände zu packen. Unter dem Freund beginnt das zertrümmerte Gebäudeteil zu sacken, kracht nicht als Ganzes in den Schlund zurück, es zerstückelt lärmend.
Schwer atmend daliegend brauchen sie Zeit, um zu sich zu kommen.
„Luce“, wispert Luisa, geht in die Hocke und streichelt ihm sanft den Rücken. Der hat Lysanders Hände noch nicht losgelassen, hält sie umklammert.
Zwei Engel, denkt sie.
Jetzt sind sie wieder zwei Engel.
„Luce“, wiederholte Lysander tränenschwer.
"Ich habe jeden beschissenen Pfeiler angebohrt", ächzt Luce. "Die Formeln gesprochen und die Unschuldigen vorher evakuiert." Lucifer klappt die Lider auf, springt dynamisch auf die Füße und schüttelt sich einen Ascheregen aus dem Haar. „Es ist vollbracht.“ Nicht ohne Stolz versucht er, eine würdevolle Haltung zu bewahren, knickt aber in die Knie und muss von Ly gehalten werden. „Das Scheißding ist zerstört, ohne die Welt in den Abgrund gerissen zu haben.“
„Das war aber ganz schön knapp“, murmelt Damiano, der sich das schweißverklebte Hemd vom Körper lupft. „Ich hab das von Anfang an ziemlich riskant gefunden.“
„Sei nicht so ein Weichei.“ Luisa klopft ihm so heftig auf den Rücken, dass er nach vorne strauchelt. „Wir konnten die Regeln da drinnen nicht ändern, also musste die ganze Konstruktion weg. Da kamen immer noch Leute rein, die nichts getan haben. All die, die sich nie was zuschulden kommen ließen, und bloß nicht in diese anachronistische Weltanschauung passten. Frauen, die Frauen, Männer, die Männer lieben, sogenannte Ungläubige und all so ein Mist. Das Loch ist schon seit Jahrzehnten obsolet.“
Luce und Lysander gucken verblüfft. "Du hast gut aufgepasst", meint Luce grinsend. "Als Andersgläubige…"
"Ich bin nicht erst seit gestern mit einem Engel verheiratet", schnappt sie. "Und vielleicht darf ich dich daran erinnern, dass ich dir da unten einen Besuch abgestattet habe, als ich noch dachte, dass wir Feinde wären."
Befreit lachen sie auf. Sie umarmen sich fest.
Ein letzter Donner grollt aus dem Vesuv. Dann ist er still.
Arm in Arm schlendern sie zum Auto zurück.
Die Walküre, die beiden Engel, und der dritte Engel, der einst verstoßen war.
Die Freunde wurden, als die Walküre einen Helden aus der Hölle befreien sollte, der versehentlich dort hinein geraten war.
Liebende.
1 Woche später, 1800 km nördlich, an einem Küchentisch beim Frühstück.
Jana schaut verblüfft auf die Zeilen, sie kneift die Augen zusammen.
"Hier steht was Merkwürdiges", murmelt sie.
"Was denn?" Tim nippt an seinem Kaffee.
"Hier steht, dass keine Lava mehr in den Flegräischen Feldern ist."
Raschelnd schüttelt sie die Zeitung. "Und der Vesuv ist jetzt auch leer. Die Fachleute wollen nun die anderen Vulkane untersuchen, aber erklären kann sich das keiner."