19:13 Uhr bis 20:02 Uhr
Das Chaos, war perfekt, und es wunderte mich wenig, dass die Byzantiner ihre Finger im Spiel hatten, wo Chaos doch ein griechisches Wort…
„Du musst ihr helfen“, winselte Tristan, mein unseliger Bruder, der verletzt und mit bandagiertem Leib in seinem Bettkasten lag. Etwas steif hockte ich am Rand seiner Matratze und zögerte, seine Finger zu nehmen, die schwach nach mir tasteten. Liebe ist ein großes Wort, das zu uns beiden nicht richtig passen will, allein, weil ich denke, dass es keine ungleicheren Brüder gibt als uns. Meinen Unwillen las er mir im Gesicht ab. Vermutlich erinnerte ihn der genervt gespannte Mund an unseren Vater.
„Anais“, hauchte er atemlos. „Rette sie. Du musst.“
„Nichts muss er!“, keifte es von der Tür, und als ich aufsah, und Lily dort erblickter, sah ich wahrscheinlich noch genervter aus. Es fehlte gerade noch, dass sie mitkam.
„Er hat nichts mit dir und deinem Liebchen zu schaffen“, schimpfte sie wie ein Rohrspatz. Nur wer sie gut kannte, und niemand kannte sie besser als ich, sah die Furcht, die in ihrem leicht geröteten, sommersprossigen Antlitz unter der Wut leuchtete. „Was hat Jocelin mit…“
„Lass‘ gut sein Lily“, brachte ich ein Murmeln zustande, den Blick dabei starr auf Tristans kräftiger Hand, die die meine umklammert hielt.
„Nichts hat er mit dieser bleichen Person zu tun“, redete sie sich in Rage. „Sein Leben für sie riskieren? Wahrscheinlich hat sie nur deine Spielsucht in diese fatale Lage gebracht…“
„Nein, ich…“, ächzte Tristan.
„…solltest irgendwas machen, mit deinem Gesicht!“,schloss ihr zorniger Monolog. Ich blinzelte irritiert, wohl wissend, dass sie auf seine grün und blau geprügelte Visage anspielte, die von zwei Schnittwunden geziert war. „Was stellst du dir vor? Eine eiserne Maske?“, fragte ich gereizt.
„Doch“, krähte er dazwischen. „Alles hat er damit zu tun.“
Sie klammerte sich noch am Türrahmen fest und schickte mir einen verständnislosen Blick.
Ich zuckte die Achseln. „Von Anfang an hing ich mit in der Scheiße. Als er sie das erste Mal traf, war es um seinen mageren Verstand geschehen und seither…“
„…halfst du uns. Gegen alle Widrigkeiten.“ Er drückte meine Hand, so fest er konnte.
„Ich verstehe nicht“, kiekste sie.
Ich seufzte. „Damals, als wir jung waren…“
„Ihr seid immer noch jung!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf.
„Als wir blutjung waren“, versuchte ich es mit Geduld…
Die Sonne stand im Zenit, als wir vorne auf der alten Handelsstraße die Sänfte entdeckten, die schief im Bankett hing. Die Zelter waren abgeschirrt, zwei Ritter, offenbar die Begleitung der reisenden Dame, standen mit stumpfen Mienen herum und kratzen sich am Kopf.
„Da ist ein Tragriemen gerissen“, konstatierte ich analytisch. „Lass uns mal hin und helfen.“
Tristan stellte sich in die Steigbügel, um sich bequemer in den Sattel zu setzen, und zog eine angewiderte Grimasse, was mich nicht verstörte. Ein Menschenfreund war er nicht, weshalb ich sachte die Sporen in die Flanke meines Pferdes drückte und aufrückte. Ich hörte ihn hinter mir gereizt stöhnen, aber bald darauf zeigte mehr Hufgetrappel an, dass er mir folgte. Aus dem Sänfteninneren drang ein jämmerliches Weinen, das die Herren leider nicht befeuerte, das Problem mit dem Tragriemen zu lösen. In mir löste das erstickte Geräusch einen Fluchtreflex aus, was mir damals schon hätte zeigen können, auf welche Art Frauen ich später abfahren würde. Die Furchtsamen waren es nicht. Aber Tristan war wie verwandelt. Er schwang aus dem Sattel, kletterte die Böschung runter, zerrte die Vorhänge zur Seite ... und war wie erstarrt.
„Ein Engel“, stöhnte er in seinem Krankenbett. „Zartes Wesen aller reinster Haut…“
„Sie hat keine Wahl mit ihrer Sonnenallergie.“ Lily verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das wusste da ja noch keiner“, erwiderte ich ungeduldig ohne den Blick von meinem Bruder zu lassen, den ich in allen Stadien der Wut kannte, aber Verzweiflung war mir neu bei ihm.
„Haut wie Quellwasser“, keuchte er matt, den Blick irgendwo oben im Betthimmel.
… stumm vor Staunen reichte er ihr seinen Arm und half ihr vorsichtig das Bankett hoch. Den Rock geschürzt, Blick zu Boden – so würden wir sie alle später kennenlernen. Sie konnte einem kaum ins Gesicht sehen.
„Ich danke Euch, Herr Ritter“, hauchte das Mädchen, das sie war. „Mein Gemahl…“ Ihre Stimme verebbte. Ihr Gesicht war leichenblass.
Damals war keinem von uns klar gewesen, was sie damit andeuten wollte. Dass sie vor Angst umkam, ihr verfluchter Gemahl Gisulf, damals noch Fürst, würde davon erfahren, dass sie sich bei einem fremden Ritter eingehakt hatte.
„… mein Gemahl erwartet uns in Benevent. Der Heilige Vater wird uns dort empfangen, und er wird es nicht mit Wohlwollen betrachten, wenn ich mich verspäte.“
Auch das noch… derweil Tristan da hinten mit ihr herum sülzte, lief ich mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Straße auf und ab und kickte Steinchen ins Bankett. Keine Ahnung, was weiter passiert war, aber als wir alleine weiterritten, schwieg er, der sonst so hochfahrend daher schwafelte. Er pflückte sogar Blumen und zupfte Blütenblätter, wenn wir Pausen machten. Wahrscheinlich war völlige Umnachtung, die er niemals wieder hatte abstreifen können.
In der Folge bekamen wir heraus, wer sie war. Die Gemahlin des damaligen Fürsten von Salerno. Gisulfs Frau. Und Gisulf war der ungeliebte Bruder unserer Herzogin. Überall diese ungeliebten Brüder.
Ich seufzte schon wieder, das war momentan geradezu inflationär. Als unsere Herzogin, mit unserem Vater im Geleit, einen diplomatischen Besuch bei ihm machte, schmuggelte sich Tristan an unsere Seite und vollbrachte den Affront, die kleine Bleiche bei unserer Abreise im Trosskarren unter Tierhäuten zu verstecken. Das Donnerwetter, als Vater das rausbekam, werde ich nie vergessen. Kurz, er schickte sie zurück. Tristan belaberte mich, sie wieder rauszuholen. Am Ende bekam ich mehr Ärger als er, weil ich es nicht verhindert hatte…
„Was seid Ihr für ein kaltherziger Mann!“, herrschte Tristan den Grafen an. „Wie soll ich denken, dass Ihr etwas anderes als einen Stein dort wohnen habt, wo andere Menschen ein Herz…“
„Guter Gott, ist das so?“ Der Graf hatte so leise gesprochen, dass ich mich fast wegduckte. Ich wusste, was der Tonfall bedeutete. In der Taverne, in der wir saßen, in der Anais kauerte, schob sich der Graf, unser Vater, geschmeidig zwischen Tisch und Bank und beugte sich zu Tristan vor. „Nimm den Kopf aus den Wolken“, zischte er. „Das“, er zuckte mit dem makellosen Kinn zu dem Bündel in Weiß, aus dem ein Wimmern drang, „ist die Fürstin von Salerno. Noch. Ihre Anwesenheit unserem Herzog zu erklären, wird heikel, und die Begleitumstände ihrer Flucht sehen offensichtlich nicht nach einer Vergnügungsreise aus.“ Seine lang bewimperten Augen huschten in meine Richtung. „Jocelin. Von dir wenigstens hätte ich Verstand erwartet.“
Aber wir schafften es. Den Herzog zu überzeugen, sie zweimal zu retten, sie nach Rom zu geleiten, als ihr Mann ihr zu dicht auf den Fersen war. Ich schaute Tristan an, dessen Augen sich mit Tränen füllten. Erst im letzten Jahr hatte er sich einem glücklosen Verrat gegen unseren Fürsten angeschlossen, weil er dachte, auf diese Weise an den ersehnten Dispens für Anais zu kommen. Nur durch Vaters Fürsprache war er noch am Leben. Und weil ich ihn, bevor es zum Schlimmsten hatte kommen können, überzeugt hatte, die Seiten zu wechseln. Ich hatte ihm geholfen. Immer. Gegen jede Widrigkeit. Wir guckten alle zur Tür, als sich Schritte näherten.
„Wir wären dann so weit.“ Im Rahmen stand Luigi, von den Wachleuten der Zitadelle der Vertrauenswürdigste. Ich schraubte mich hoch, nickte gnädig und stülpte, nicht ohne schon wieder zu seufzen, meine gepanzerten Handschuhe über, während ich dem hallenden Schritt seiner genagelten Stiefel die Treppen hinunter folgte, und dann über den gepflasterten Hof der Zitadelle schritt. In meinem Auftrag hatte er ein paar Männer zusammengestellt, die Teil des Himmelfahrtskommandos waren, und ich würde Gott danken, wenn ich mir davon irgendetwas verspräche, dass Tristan verletzt in seinem Bettkasten lag. Und ich würde zum Tiefgläubigen werden, wenn Gott verhinderte, dass Lily mitkam. Ich warf einen Blick in den tiefschwarzen Himmel, erhielt aber keine Antwort von dort. Sie würde mitkommen. Weil sie es immer tat, stets an meiner Seite.
Gegen alle Widrigkeiten.