Die Wiese vor dem Kindergarten ist die des Kreuzgangs eines vormaligen Klosters, dessen Mauern sich im Viereck drumherum erhöhen, und an dessen nördliche Seite sich die Kirche schmiegt. Ein altes Gemäuer des Hochmittelalters, vor Geschichte berstend.
Was nun nicht eben nach einem vor Frohsinn berstenden Kindertagesstättenalltag klingt, aber der Eindruck täuscht aus zweierlei Gründen: Die Kirche steht in der Kölner Altstadt Süd und sie ist seit 1818 evangelisch. Das ändert nichts daran, dass sie in der ersten Adventswoche düster daherkommt. Dräuend ragt sie in bleigrauen Himmel, und es regnet, weshalb draußen niemand spielt. Allein der schiefe Gesang aus zwanzig Kleinkinderkehlen erhellt das Gemüt der Vorübergehenden.
Advent- Advent ein Lichtlein brennt
Durch das weiße Gaze der Stores flackern die Kerzen der Kinder, die vor ihnen auf dem Tisch stehen und schicken einen leuchtenden Gruß in die Außenwelt.
Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier
Jauchzen und Glück
Dann steht das Christkind vor der Tür
Die roten Kerzen kleben mit Wachs befestigt auf Pappdeckeln, die für ein Kölsch werben. Die Werbung ist nur spärlich verdeckt von trockenen Tannenzweigen. Auf jeder Pappe steht daneben dickbäuchig ein roter Wichtel.
Advent- Advent, ein Lichtlein brennt…
An dieser Stelle stürzt irgendwo die erste Kerze um.
Kinder kreischen und springen von den Stühlen, wobei sie ohne den geringsten Zweifel weitere Kerzen umwerfen.
Advent-Advent-die Gardine brennt jetzt lichterloh.
Nach längerem Suchen finden die beiden Erzieherinnen ihren Kopf und evakuieren den Raum geordnet. Eine klemmt im Nebengebäude sofort am Telefon, das mit einer Schnur an der Wand hängt. Damals waren wir von Handys Milliarden von Lichtjahren entfernt. Ein Fakt, der für den eklatanten Mangel an Eltern sorgt, als wenige Minuten später die Feuerwehr eintrifft und ihrer Arbeit nachgeht, denn…
Es weiß ja keiner.
Ob Mutti zuhause Plätzchen backt oder im Büro sitzt, spielt keine Rolle. Niemand kann informiert werden. Weinende drei bis fünfjährige Jungs und Mädchen in dicken Strumpfhosen irren auf der Wiese zwischen Feuerwehrleuten umher oder tapsen ins Hauptschiff der Kirche.
So viele Verantwortliche sind auf die Schnelle einfach nicht aufzutreiben. Das Kirchenschiff wirft Hicksen und Weinen in vielfachem Echo zurück, und kümmern können sich allein der panisch herbei geeilte Pfarrer, dessen Frau, zwei drei Frauen der Gemeindearbeit und die beiden Kindergärtnerinnen.
Das Kartäuserkloster brennt nicht ab. Die Kinder beruhigen sich langsam, nur vereinzelt ertönt noch ein leises Weinen oder Schniefen. Die ersten werden auch schon abgeholt, weil eine der Gemeindefrauen die Telefonliste abtelefoniert.
„So ist das gewesen“, erklärt Jana ihrer Freundin während des Schmückens ihres Wohnzimmers. In Händen hält sie vier schlanke Kerzen, die sie zum Tisch trägt, auf dem der Edelstahlständer thront, den sie zuvor mit Eukalyptuszweigen umwickelt und mit zwei drei Tannenzweigen verziert hat.
„Deshalb benutze ich seit zehn Jahren dieselben Kerzen für diesen Ständer.“ Sie zwinkert Steffi zu, die vage den Kopf schüttelt und ungläubig lächelt.
„Warum hast du das nie erzählt?“
„Ach“, Jana zuckt die Achseln, „Ist doch egal. Es stört doch keinen. Und so muss ich nicht fürchten, dass die Katzen die brennenden Kerzen umrennen.“