Die Sonne tauchte leider hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile ab. Verschwand, ließ sich verschlucken, um an anderer Stelle ausgekotzt zu werden. Es gab viele Gründe für ihn, dies zu bedauern.
Weil er sie liebte, die Sonne, hatte er sie in den Tagen so schmerzlich vermisst, in denen sie ihn weggesperrt, verhöhnt und gequält hatten, bis sein Vater den Forderungen der Entführer nachgegeben, und seine Ideale als Staatsanwalt ebenso verraten hatte, wie er sich aller mit dem Amt einhergehenden Verpflichtungen entledigt hatte.
Die Dunkelheit, Finsternis, Abwesenheit von Licht, war bis dahin über ihn gekommen. Und sein Feind geblieben.
Der Halbschatten aber das Element, in dem er sich bewegte. Doch aktuell hatte die Sonne ihm hier oben auf der Dachterrasse lange genug ins Auge gestochen, dass er wach blieb.
Seltsam, das ihn quälte, was er liebte.
Die Sonne zum Beispiel.
Sein Bruder.
Der ihn mit seiner selbstgerechten Art zum Würgen brachte. Immer wieder.
Die Sonne.
Mit ihrem Verschwinden war es schwerer, sich zu konzentrieren. Zumal er die Straße unter ihm nur punktuell fokussierte. Die Via Calzaiuoli, Verkaufsstraße, ein Geschäft neben dem anderen, Hauptachse zwischen Dom und Palazzo Vecchio, und überfüllt. Menschentrauben, die sich entweder mit Tüten bepackt oder wankend, weil sie erschlagen waren, von dem, was die Stadt ihnen bot, von einem rot markierten Punkt in ihren Reiseführern zum nächsten schleppten.
Die Hitze, schier unerträglich für den Ungeübten. Ohne den Hauseingang, den er im wahrsten Sinne des Wortes im Visier hatte, aus den Augen zu lassen, nahm er sein Smartphone vom runden Tisch, der auf der Dachterrasse des Hotels stand, umringt von drei Stühlen, und auf dem ein Weinkühler mit einer Flasche Vernaccia thronte, und warf einen flüchtigen Blick hinein.
37 Grad, Luftfeuchtigkeit 87%.
Und er schwitzte nicht.
Er steckte das Gerät in die Gesäßtasche seiner Hose.
Geschwitzt hatte er in diesem Scheißloch, in das sie ihn damals gesperrt hatten. Ihn , einen Sechszehnjährigen, mehr tot als lebendig vor Angst, eingepfercht in eine der tausend, nachträglich mit einem Gitter versehenen Grotten Kalabriens. In glutheißer Einöde buckliger Berge, auf denen Macchien gen Himmel wuchsen, als erflehten sie Hilfe.
Von Gott.
Die Sonne war alles, was sie bekamen.
Alles Schwitzen und alle Angst hatte er dort gelassen, damals. Neben seine Tränen hatte er beides gelegt, und vielleicht hätte er gedacht, er könnte all das wieder abholen, wenn es vorbei wäre, Furcht, Schweiß und Tränen. Wenn er hätte denken können.
Aber damals war nur Fühlen gewesen.
Das hatte er mitgenommen, und es später irgendwo deponiert, als er merkte, wie lästig es war, zu fühlen. Bis Chiara gekommen war, und plötzlich überall wieder Gefühle herumlagen.
Die Sonne.
Seit sie ihm nicht mehr in die Augen stach, verlor er sich in ihnen. Erinnerungen, Gefühle.
Ohne die Sonne pflegte er das Zeitgefühl zu verlieren, was wirklich wenig nützlich in seinem Job war.
Unten bewegte sich etwas. Die Tür gegenüber wurde aufgezogen. Heraus trat zuerst eine Frau. In Jeans und Bluse, die mit dem Mann, der hinter ihr heraustrat, sprach. Das sah geschäftlich aus.
Kollegen vermutlich.
Dann trat auch der Typ vor die Tür.
Er wird eine grüne Mappe tragen.
Aus Pappe.
Wie sie Staatsanwaltschaft und Polizei benutzten, und deshalb fixierte er den Kerl erst hüftabwärts, bis er den Ordner in der rechten Hand des Mannes sah. Der Kerl war ungeduldig, schlug sich das Ding immer wieder gegen den Oberschenkel, der , wie der ganze Kerl, in einer Hose steckte, die zu einem wertigen aber zerknitterten grauen Anzug gehörte.
Er atmete tief ein, bereit zu tun, wofür er bezahlt wurde.
Der Mann gegenüber hob die freie Hand, und als wäre Cherubinos Blick an einen seidenen Faden mit dieser Hand verknüpft, folgte er der Handbewegung bis hindurch, durch das dunkel gewellte Haar.
Er hielt den Atem an.
„Heilige Scheiße“, murmelte er.
Der Anzugträger schaute nach oben. Fast schien es, als würden sich ihre Blicke treffen.
Reflexartig hob er die Hand zu einer beschwichtigenden Geste, die der da unten unmöglich sehen konnte. Abrupt drehte er sich von der Brüstung der Dachterrasse weg, stürzte ins Zimmer, vorbei an den sich in der heißen Brise wie Geister bewegenden Vorhänge der Tür.
Mit kalter Routine, die sein wild pochendes Herz Lügen strafte, warf er das Sniper-Gewehr aufs Bett. Während er auf seinem Smartphone die Nummer seines Agenten tippte, öffnete er die Minibar, fand, was er suchte, und drehte die kleine Flasche Bombay-Gin auf, die er in einem runter stürzte.
„Ja?“, verlautete die Stimme auf der anderen Seite der Leitung heiser.
„Das war ein Fake“, stieß er zornig aus.
„Was? Der Auftrag? Ich glaub‘ nicht, Cherub, sie haben 10.000 angezahlt, bevor du die Legende der Zielperson bekamst. Der Rest wie immer. Fällig bei Lieferung.“
„Die Legende der Zielperson war ein Fake, Michele.“
„Ich erstehe nicht, wie du darauf kommst. Es war…“
„Irgendein verdammter Wichser wusste, dass ich ihn nicht töten würde, wenn ich wüsste, wer er ist. Deshalb der Fake.“
„Was soll ich…“
„Gar nichts.“ Er sank aufs Bett, sah hinaus auf die Terrasse, dann auf das Gewehr, und entschied, es wegzupacken. „Nichts.“
Mit zwischen Gesicht und Schulter eingeklemmten Smartphone schraubte er das Zielfernrohr ab. „Halt still. Ich finde raus, wer dahinter steckt.“
Er beendete das Gespräch ohne einen Abschied, pfefferte den Koffer mit dem zerlegten Gewehr in den Schrank, der aufsprang, sodass er nachtrat, riss die Tür auf, und jagte die Treppe runter.
Wenn er sich beeilte, würde er ihn noch erwischen.
Der Ausgang lag auf der anderen Seite des Hotels, dort, wo die Sonne schien, die er willkommen hieß. Er kniff die Augen nicht zusammen, setzte erst die Sonnenbrille auf, als er auf die Einkaufsstraße einbog und ihn und seine Kollegin dreihundert Meter voraus Richtung Dom schlendern sah. Er sprintete ein Stück, bis er gleichauf war.
Tiziano schwang herum. „Cherubin“, sagte er trocken. „Du bist in der Stadt.“
„Wir du siehst, Bruder.“ Er vergrub die Hände lässig in den Taschen seines anthrazitfarbenen Sommeranzugs. „Was war da los?“
„Wo?“ Tiziano, der Bruder, der Polizist, schaute an seiner Schulter zurück auf die Detektei aus der er gekommen war.
Cherub legte den Kopf schief und hob eine Braue, was ausreichende Signalwirkung hatte, denn Tiziano erklärte sich. „Ein Einbruch. Kein Rätsel, der Detektiv hat eine Auftraggberin in Verdacht. Ein Rätsel wäre der Auftrag. Warum?“
„Wo wir über Aufträge reden…“ Cherubino lotste seinen Zwillingsbruder von der Kollegin weg, die verloren stehen blieb und die Arme ausbreitete. „Lass‘ uns hoch gehen und drüber reden. Ich hatte auch einen merkwürdigen Auftrag.“
Tiziano zögerte. „Der da wäre.“
Was sollte er sagen? Sein Job war, so sehr der Polizist und Bruder ihn verabscheute, kein Geheimnis. „Jemand gab sich Mühe, weil er wollte, dass ich meinen Bruder ausknipse.“
Einen Augenblick zögerte Tiziano mit der Antwort. Er wurde nicht blaß. Auch nicht wütend. Manches war unausgesprochen geblieben, aber sie hatten immer einen Weg gefunden. Schließlich sagte er: „Dann finden wir heraus, wer.“