Oder: Wrong Planet
Als Talmi ihrer Katze gestern beim Herumstehen zusah, und dabei den Eindruck gewann, sie funkte ans Mutterschiff, fragte sie sich, weshalb sie selbst den Kontakt zu ihrem Raumschiff verloren hatte.
Und vor allem, wann.
Sie hatte sich in ihre Wolldecke gewickelt, die offiziell kratzte, deren Haptik sie jedoch vergötterte. Sie erinnerte sich gerade, wie sie im Fernsehen der Wolldeckentestung durch vier Menschen Anfang 20 zugesehen hatte, und ihre Decke unter den zu testenden Objekten durchgefallen war, was sie nicht begriffen hatte.
Decken eins bis drei waren überwiegend aus Kunstfaser, aber hochgelobt. Decke vier, die teuerste und aus Lambswool…
Die junge Frau im Fernsehen, jung, blond, glatthaarig - was sonst, ausser glatthaarig, wo sie alle aussehen wollen, als wären sie voneinander geklont- hatte sich geschüttelt und höchstqualifizierte Sätze von sich gegeben, die zitierfähig etwa so lauteten: "Iiiiiiihhh! Nein, die kratzt!"
Ja, hatte Talmi gedacht, kann sein. Aber sie ist echt und stinkt nicht nach China.
Stinkt China eigentlich? Nun, in gewissen Teilen bestimmt, so wie alle Orte irgendwo nicht sonderlich gut riechen.
Egal - ihre Katze hatte ans Mutterschiff gefunkt und Talmi, die darob sonst vor Neid platzte, war bloß noch traurig gewesen.
Wenn sie doch nur wüsste, wohin sie nach Hause telefonieren sollte.
Oder funken.
Nach all den Jahren wurde es unerträglich hier. Sie fing an, die Sprache nicht mehr zu verstehen.
Oder besser formuliert: Früher hatte es ihr keine Schwierigkeiten bereitet, über sprachliche Unschärfen hinwegzusehen, und geahnt, was die Leute eigentlich sagen wollten, aber die Fähigkeit war ihr abhanden gekommen. Wahrscheinlich, weil sie es hier nicht mehr aushielt.
Der Ausflug, den sie vor einigen Wochen mit der Lieblingsplanetmännin (hier sagt man wohl Landsmännin, wobei Landsfrau die bessere Bezeichnung wäre) gemacht hatte, war zwar zuerst eine Wohltat gewesen, weil sie nach langer Zeit mal wieder muttersprachlich hatten reden können, hatte aber im Nachgang das Heimweh gefördert.
Wie sie ins Hotel gerauscht waren…
"Guten Tag." Talmi lächelt ihr freundlichstes Lächeln. "Wir haben ein Zimmer reserviert. Auf den Namen Jensen."
Die Concierge mustert sie so seltsam.
Früher hatte Talmi geglaubt, die Leute guckten sie so eigenartig an, weil ihr die Assimilierung nicht vollständig gelang, aber inzwischen weiß sie, dass sie allein durch den Fakt, dass sie jeden Handgriff, und sei es auch nur der nach dem Portmonee in der Tasche, so konzentriert ausführt, dass sie für arrogant gehalten wird.
Weil sie für einen Moment nicht so aussieht, als gehörte sie in die Welt.
Denn sie gibt für den Augenblick die Versuche auf, auszusehen, wie alle anderen. Und sei der Wimpernschlag auch nur fünf Sekunden kurz.
Zudem, aber das hatte sie zuerst an Solve gesehen, mit der sie jetzt hier steht, sehen sie anders aus. Die Anpassung ist nicht vollständig gelungen, weil sie schön sind, ohne schön zu sein.
Das meint: Sie entsprechen nicht eben dem gängigen Schönheitsideal, weil sie nicht dünn genug sind, aber weil sie in sich selbst ruhen, wirken sie zu schön. Dafür haben sie beide nie die richtigen Worte gefunden.
Egal- die Concierge mustert sie seltsam, kramt aber ein Papier hervor, das Talmi ausfüllen soll.
Dabei spitzt sie so hochnäsig, wie andere Frauen Talmi auch immer anspitzen: "Zimmer 104, auf der ersten Etage, aber sie können es erst um 13 Uhr beziehen."
"Warum?" Talmi hebt eine Braue und schiebt das Blatt über den Empfangstresen.
Die Concierge blinzelt irritiert, wahrscheinlich weil Regeln in der Regel nicht infrage gestellt werden. "Das sind die Hausregeln."
"Das ist aber kein Argument", mischt sich Solve ein. "Wenn das die Hausregeln sind, wird es einen Grund für diese Regeln geben. Welcher wäre das?"
Die Nase der Concierge wandert weiter hoch. Sie sieht ein wenig wie eine Sprungschanze aus, diese Nase, denkt Talmi.
"Sie können das Zimmer erst um 13 Uhr beziehen", wiederholt die Concierge.
Talmi, die über weniger Geduld verfügt wie ihre Freundin, aber normalerweise auch über mehr Humor, weiß nicht mehr, wo sie den hingelegt hat, den Humor. Kurz überlegt sie, ob sie ihn zuhause vergessen hat. "Sind sie ein Papagei?", fragt sie ausdruckslos. "Ist das Zimmer vielleicht noch nicht gereinigt?"
"Doch. Das Zimmer ist bereit."
"Wir sind es auch", behauptet Talmi, und Solve, die sich das lange, unnatürlich dicke blonde Haar von der Schulter fegt, fragt. "Wozu?"
"Wozu was?", will die Concierge wissen, taxiert dabei aber das Blatt, das ihr Talmi ausgefüllt hin geschoben hat.
"Wozu ist das Zimmer bereit", erläutert Solve die Frage, die sie in ihrer ersten Version schon total verständlich gefunden hat.
"Sie zu empfangen", schnappt die Concierge.
"Weshalb können wir dann erst in anderthalb Stunden hinein?"
"So lauten die Regeln."
"Aber die ergeben keinen Sinn", erklärt Talmi, derweil sie ihren Ausweis wieder in der Geldbörse und diese in die Handtasche verstaut.
"Ich rufe meinen Vorgesetzten." Die Concierge nimmt das Telefon.
"Warum?", verlangt Talmi zu erfahren.
"Machen Sie das", wirft Solve ein.
"Ich verstehe nicht, warum Sie Probleme machen", schnappt die Concierge.
"Wir verstehen nicht, warum Sie Probleme machen", entgegnet Talmi.
"Und was heißt das hier?" In einer Hand das Telefon linst die Concierge auf das Anmeldeformular.
"Das ist mein Vorname. Talmi."
"Ach, das ist ein T? Hab' ich wegen der Striche nicht erkannt."
"Welche Striche?" Solve drängelt sich vor, zieht das Blatt zu sich.
"Die da oben." Die Concierge zeigt auf den Balken des T."
"Oben?" Talmi guckt in die Luft, entdeckt aber nur eine Zimmerdecke, auf die grüne Wellen gemalt sind.
"Auf dem Blatt."
"Ach so." Während Talmi ihre Schrift ansieht, die sie so verständlich wie ihre Sprache findet, telefoniert die Hotelmitarbeiterin mit dem Vorgesetzten.
Als sie das Gespräch beendet hat, sagt Talmi. "Das was sie Striche nennen, sind Serifen."
"Was?"
"Die Striche."
"Mein Vorgesetzter kommt gleich."
Aber nach einem Gespräch mit dem Vorgesetzten liegt sie neben Solve, vor 13 Uhr, bäuchlings auf dem Hotelbett und guckt geschockt auf die weißen Vorhänge, die vor dem großen Panoramafenster das Panorama verschleiern und sich nicht wegschieben hatten lassen.
Welchen Sinn hat ein Panoramafenster ohne Panorama?
Oder nur mit milchig weißem Schleier-Panorama?
"Vor-gesetzt", murmelt sie. "Vor-gesetzte sind immer irgendwo im Off. Sie sitzen nie vor ihren Mitarbeitern. Meistens verstecken sie sich hinter ihnen."
Solve nimmt ihre Hand.
Daran erinnert sie sich jetzt.
Wie schön die Berührung war. Nichts, was sie hätte erklären müssen, weil sie sofort verstanden worden war.
Früher hatte sie Solve immer aus ausweglosen Situationen retten müssen, weil die stets alles wörtlich verstanden hatte.
Klar, Talmi ging es nicht anders, aber sie hatte stets nur zwei Sekunden gebraucht, um herauszufinden, was die anderen gemeint hatten.
Der Kommilitone, der sich vorgestellt hat. "Ich bin Hendrik, mit D."
Solves Antwort: "Dendrik?"
Talmi, die Solves Arm berührt und souffliert. "Hendrik. Er meint das D in der Mitte."
"Warum sagt er es dann nicht?"
"Ich weiß es doch auch nicht, Solve-Schatz. Sie reden hier so."
Ohne Talmi hatte sich Solve immer verlaufen, da half auch Google-Maps für Fußgänger nicht. Dafür rennt Talmi gegen jeden Türrahmen und jedes Möbel, weil mit der Programmierung ihres räumlichen Vorstellungsvermögens etwas nicht stimmt.
Ihre Katze hat den neuerlichen Funkverkehr mit dem Mutterschiff abgebrochen.
Talmi, die kratzende Wolldecke erneut bis zum Kinn hochgezogen, fragt sich, wohin sie die Kontaktdaten zu ihrem Planeten gelegt hat.
Sie friert, weil es hier zu kalt ist.
Womöglich in irgendeine Kiste, zwischen dem Humor und dem Lachen, aber wo die Kiste steht, weiß sie gerade auch nicht mehr.
Sie schüttelt sich, überlegt, was sie ans Mutterschiff würde berichten können, wenn sie die Kontaktdaten fände.
Statt danach zu suchen, nimmt sie das Handy, um Solve anzurufen, deren Kontaktdaten immer zur Verfügung stehen.
Wenigstens ist sie nicht allein.
Sie hörte von Planetsmänninen, die sich ihr Leben lang allein über die Erde pfuschen, irgendwann zusammenbrechen, weil sie nicht verstanden werden, obwohl sie sich so viel Mühe gaben.
Sie und Solve haben wenigstens einander.