21:54 bis 22: 52
Als Serafina und Loulou bei Einbruch der Dämmerung zum Pilzsammeln aufgebrochen waren, waren sie guter Dinge und bester Laune gewesen, an der der zähe Herbstnebel nichts änderte. Mit Korb in der einen, dem Messerchen in der anderen Hand und warm angezogen entfernten sie sich nie weit voneinander. Sie blieben in Rufweite und freuten sich über die Ausbeute. Loulou lächelte zufrieden in sich hinein, als sie in die Hocke ging und die Steinpilze abschnitt, um sie zu den anderen in den Korb zu legen. Das würde ein hervorragendes Sugo für Fettuccine, eine Speise, die sie beide darüber hinwegtrösten würde, bisher noch keine Pilze gefunden zu haben, die sie für medizinische Zwecke verwenden konnten. Sie hörte Serafina ein Liedchen trällern, spitzte die Lippen, um pfeifend in den Song einzustimmen, als sie sich plötzlich hochstemmte und erstarrte.
Was war das?
Sie runzelte die Stirn.
Serafina sang unvermindert weiter.
„Sei mal still!“, herrschte sie, den Blick ins Nirgendwo gerichtet.
„Was? Wieso?“
Loulou wedelte mit der Hand. „Pst! Hörst du das nicht?“
„Die Autos? Wir sind scheint’s fast aus dem Wald raus. Dieser scheiß Nebel…“
„Pst! Nein!“
Jetzt hörte es die Freundin auch. Ein stetig lauter werdendes Dröhnen rauschte heran, steigerte sich, vermischte sich mit einem schrillen Crescendo, bis es so gewaltig krachte, dass die Erde bebte. Laub rieselte herab.
„Ah!“ Loulou knickte in die Knie, stützte sich mit der Hand auf den feuchten Boden. „Fina! Finchen! Ist alles in Ordnung!“ Sie tastete sich voraus.
„Ja!“, klang es fest.
„Ich komme zu dir. Sag irgendwas! In diesem Kacknebel… Ah!“
„Was ist passiert?“
„Bin gegen einen Baum gelaufen“, murmelte sie, fühlte aber Finas Präsenz, deren Konturen sich mit jedem Schritt verfestigten, bis sie endlich eng beinander standen, und Fina den Arm um sie legte. Im Gegensatz zu ihr schien die sich nicht zu fürchten.
„Was war das?“, forderte Lou zaghaft.
„Ein Unfall. Sieh selbst.“ Serafina zuckte mit der Hand voraus, wo sich im wabernden Nebel ein kreisrundes, gigantisches Stahlding halb ins Erdreich gefräst hatte. Dies hier, das war zwischen den Bäumen auszumachen, war offenbar ein Rastplatz. Rechts vor dem verunglückten Objekt parkte ein Seat, dessen Insassen panisch kreischend ins Grün türmten und schon bald vom Nebel verschluckt wurden. Darüber hinaus war da niemand, aber das sollte sich bald ändern. Ungläubig beobachtete Loulou, wie an dem Ding zwei Lampen angingen und die Szenerie in ein fahles Licht tauchten.
„Was…“, brachte sie raus, aber Fina sah zu ihrer Überraschung nur verärgert drein. Mit der Faust in der Hüfte, am Ellenbogen noch den schaukelnden Korb mit den Pilzen, tappte sie mit dem Fuß, als wartete sie auf etwas, und tatsächlich. Immens quietschend öffnete sich eine Luke, eine Leiter wurde ausgefahren und eine hünenhafte Gestalt kraxelte hinab, die, sich am Kopf kratzend, halb um das Fahrzeug herum ging, als suchte sie nach einer Lösung. Dabei bewegte sie sich bedächtig, als wäre sie die Luft nicht gewöhnt, in der sie sich bewegte.
Finchen räusperte sich.
Die Gestalt schwang herum.
Die Anspannung fiel von Loulou ab. Was immer das war, es war männlich und sauschön. Blondes Haar fiel in Wirbeln keck in eine Stirn, unter der silbrig glänzende Augen Erleichterung signalisierten. Zumindest erkannte er, dass da zwei Frauen standen, die keine Angst hatten, von denen eine sogar korrekt einzuschätzen vermochte, was genau da vor sich ging.
„Das passiert, wenn man die Verkehrssignale missachtet!“ Erzürnt fuchtelte Serafina mit der freien Hand auf das grüne Autobahnschild. „In casa di nebbia! Das steht da! Mit Piktogramm, auf was man achten soll!“
Die Gestalt im Raumanzug stakste mit hoffnungsvoller Miene auf sie zu. Loulou drängte sich näher an ihre Freundin. „Passiert hier so was öfters“, wisperte sie. „Bei uns in Südfrankreich…“
„Hyper, hyper“, antwortete der Außerirdische mit wohlklingender Stimme, die Lou eine Gänsehaut verursachte. Die Äußerung hingegen fand sie ziemlich kryptisch.
„Ich ahne Fürchterliches“, stöhnte Fina genervt.
„Hyper?“ Der Mann deutete mit halb verzweifelter Miene auf das Wrack seines Raumschiffes.
„Ist das deren Sprache?“ Loulou kniff sich in die Nase.
„Nein, es ist… viel simpler. Hol bitte die Besen.“
Lolou sprintete los, wurde nach vier Schritten vorsichtiger, um nicht wieder gegen einen Baum zu rennen, und kam fünf Minuten später mit ihren Besen zurück, nur um zu beobachten, wie ihre Freundin mit Händen und Füßen kommunizierte, was immerhin zur Bereitschaft des Fremden führte, sich hinter sie auf den Besen zu setzen.
„Wohin?“, fragte sie neidisch. Zu gerne würde sie sich von dem adretten Burschen umfassen lassen.
„Zu Befana.“
„Meinst du, sie spricht deren Sprache?“
„Sie nicht. Aber sie wird helfen können.“
Sie sausten durch den Nebel, Lolou dem Duo voraus dicht auf den Fersen, bis sie auf der Waldlichtung vor Befanas Hütte landeten und ihren Gefährten entstiegen, die sie an die Hauswand lehnten. „Deine Nebelschlussleuchte ist defekt, Fina.“
„Danke. Kümmer ich morgen drum.“ Serafina hämmerte gegen die Tür. „Befana! Bist du da?“
Loulou straffte sich. Vor Befana hatte sie gewaltigen Respekt. Zuhause in Südfrankreich bewunderte man sie. Es war allgemeingültig, dass sie damals die Ankunft des Herrn nur wegen einer Intrige der Heiligen Drei Könige versäumt hatte und mit den Willkommensgeschenken zu spät kam. Aus Rache und aus Menschenliebe beschenkte sie seit 2021 Jahren am Jahrestag ihres Zuspätkommens alle Kinder im Süden. Die Könige ärgerten sich schwarz. Hatten im Mittelalter gar versucht, den Stellvertretern Christi auf Erden einzuflüstern, sie wäre eine Ketzerin. Leidvolles hatte sie auf sich genommen, war sich und ihrer Mission aber stets treu geblieben.
Die Tür wurde ruckartig aufgezerrt, Befanas rot gelockter Schopf lugte heraus. „Was denn? Ich packe schon Geschenke ein. Ihr müsst wirklich einen guten Grund haben, wenn ihr… oh.“ Verdutzt stierte sie den Fremden an. „Ist er verunglückt?“
„Ja.“ Finchen drängte sich, den attraktiven Burschen hinter sich her zerrend, ins Haus. Lou folgte weniger forsch, bis sie in einem Berg Spielzeug standen, der von monströsen Geschenkpapierrollen flankiert war. „Aber wir haben gewisse Probleme.“
Serafina klopfte dem Kerl auffordernd auf den Oberarm. Der schaute Befana auf eine Weise an, die Loulou veranlasste, eine resignierte Grimasse zu ziehen. Neben aller Menschenliebe war Befana auch noch die Schönste.
„How much is the Fish?“, tönte es begeistert aus des Fremden sinnlichen Mund.
Befana blinzelte verwirrt.
„Hyper?“ Der Fremde guckte traurig.
„Also, ich weiß ja, dass sie in diesem Raumfahrtzentrum auf Hawaii seit 44 Jahren Musik ins All schallen, in der Hoffnung, auf diese Weise Kontakt aufzunehmen", maulte Serafina. "Aber das?“ Schwer angesäuert streckte sie die Hand nach dem Piloten aus. „Diese Musik? Ich meine, muss es wirklich Scooter…“
„Hatte er einen Unfall?“ Befana lotste ihn über die die Papierberge hinweg aufs Sofa, auf das er erschöpft niedersank. Lolou, todesmutig, angelte nach der Flasche Whisky, die auf dem Barschrank stand und warf klingelnd zwei Eiskugeln in einen Tumbler, ehe sie zwei fingerbreit eingoss.
Dankbar nahm der Mann das Getränk an. „Posse“, murmelte er und stürzte den Drink runter.
„Nah‘ dran. Posso könnte passen.“
„I like it…hyperhyper“, gab er seufzend zurück und sank erneut in die Lehne. Befana klaubte sich einige Streifen Geschenkband aus der Frisur. „Ich wusste nicht, dass sie diese Musik verwenden. Aber ich weiß, wer das Sprachproblem lösen kann.“ Sie wirbelte suchend im Haus herum. „Pompeius!“
Sie guckte in den Kühlschrank.
„Pompeius?“
Sie legte den Topfdeckel zurück auf den Topf, in den sie hinein gelinst hatte.
„Wen sucht sie?“, raunte Loulou.
„Ihren Kater“, gab Serafina angestrengt zurück. „Frag mich nicht warum.“
Mittlerweile lag Befana halb unter dem Zweisitzer, der im rechten Winkel zum Sofa mit dem Gast stand, der ihr prachtvolles Gesäß mit gehobenen Brauen beäugte. „Hyper?“
„Meeow!“
„Ach Pömpelchen.“ Befana wiegte den Kater. „Nur dieses eine Mal.“
„Sie sind völlig unterbelichtet“, schimpfte der Kater. „Die einzigen, die je etwas Sinnvolles von der Erde an ihre Mutterschiffe gesendet haben, sind wir.“
„Dafür sieht er knackig aus“, wandte Befana ein. „Wenn du das Sprachproblem löst, verschaffst du uns ein wenig Spaß, und ihm kann geholfen werden.“
„I like it loud“, bekräftigte der Fremde energisch nickend.
„Hauskatzen?“ Loulou blieb die Spucke weg.
Befana zuckte die Achseln. „Seit tausenden von Jahren schon.“
(und ich hätte noch endlos weiter schreiben können)