"....und vielleicht machst du den Kindern das Essen, wenn sie von der Schule kommen." Marion schnappt sich ihre Handtasche und kramt im Chaos des Dielenschränkchens nach ihrem Autoschlüssel.
"Aber das geht nicht!", kommt es dumpf aus dem Bad. "Da habe ich eine Telefonkonferenz."
"Die kannst du doch auf eine Stunde später legen." Wo ist der verdammte Autoschlüssel?
"Aber die haben wir immer um 14 Uhr."
"Das ist natürlich ein unschlagbares Argument." Ah, da ist er ja, der Schlüssel.
"Das Projekt ist..."
"Jan", intoniert sie scharf, weil sie noch von dieser Endlosdebatte über einen möglichen Italienurlaub genervt ist, "dein Homeoffice nützt mir überhaupt nichts, wenn du es nicht dazu nutzt, mich irgendwie zu entlasten. Wenn...."
"Du könntest aufhören, zu arbeiten."
"Das hatten wir schon tausend Mal und die Antwort ist nein." Sie fühlt ihre Wangen heiß werden. "Und darum geht es auch überhaupt nicht. Du weißt genau, dass ich dieses Jahr reisen will. Du verlagerst das Problem nur."
"Fängst du jetzt auch mit Küchenpsychologie an."
Verächtlich klingt er, obwohl ihr natürlich bewusst ist, dass die Verachtung nicht ihr, sonder der Wahrheit gilt
Da steht er. Noch in Unterhosen. Die Vorzüge des Homeoffice. Und sie denkt, wie hatte es soweit kommen können, dass er sich selbst so verliert? Dass es ihm egal ist, ob er eine Plauze vor sich her trägt und sein Kopf mit dem schütteren Haar dauernd so rot ist wegen des Bluthochdrucks.
Die Arme verschränkt er vor der Brust. "Italien ist zu gefährlich", schnappt er. Wie ein schmollendes Kind sieht er aus.
"Das ist Unsinn. Wir müssen überall vorsichtig sein. Und wir waren dieses Jahr nirgendwo."
"Wir waren in Holland." Er zieht wirklich einen Schmollmund.
"Ha", lacht sie spöttisch, "was sich als Corona-Hotspot entwickelte, während wir da waren."
"Aber das ist nah an zuhause. In zwei Stunden sind wir zuhause."
Weiß er eigentlich, wie lächerlich ein erwachsener Mann mit Schmollmund aussieht?
"Weißt du was, ich habe jetzt überhaupt keine Zeit..." Sie schwingt herum zur Tür, dreht sich aber noch einmal um, als er irgendeinen Sermon absondert, den sie nicht richtig versteht. Seine Haltung hat er nicht geändert. In keiner Hinsicht. Die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, der Gesichtsausdruck trotzig.
Wie ein Kind, denkt sie. Wie ein verdammtes Kleinkind.
Ohne ein weiteres Wort rauscht sie hinaus.
Als ob ich nicht genug um die Ohren hätte.
Der ganze gestrige Tag, an dem sie abends noch bei ihrer Mutter gewesen war, weil die ins Krankenhaus muss, hängt ihr in den Knochen.
Und jetzt das...
Ratlos und gleichermaßen verärgert sitzt Marion vor ihrem Laptop am Esstisch, derweil die restlichen Familienangehörigen um sie herum wuseln. Ein Streit um die Benutzung des Bades ist im vollem Gange. Nur gut, dass Jan im Schlamper-Outfit dem Management eines mittelständischen Unternehmens nachgehen kann, obwohl sie sich wünschte, ihn mal wieder rasiert und im Anzug zu sehen. Hätte sie auch nie gedacht. Um jede Sekunde am Laptop, an dem sie ihrer gottverdammten Arbeit nachgeht, muss sie kämpfen. Vier PCs, 2 x Home-Office, 2 Schüler und die Internetverbindung einer Bananenrepublik. Dauernd kackt alles ab, wenn sie gleichzeitig arbeiten.
Sie greift nach ihrer Tasse, nippt daran, nur um festzustellen, dass sie leer ist, aber als sie eben aufstehen will, um sich neuen Kaffee zu machen, hält sie inne. Lauscht den diktatorischen Anweisungen des Familienoberhaupts, auf die Sara mit Heulen reagiert.
"Sag mal Papa, geht's noch?", Lukas betrachtet den Patriarchen wie ein ausgefallenes Insekt. Rebellion pur, aber schlimmer noch, in einer Art und in einem Tonfall, in dem sie selbst mitunter mit Jan spricht.
Glasklar erkennt sie, dass ihr Sohn sie kopiert, auch den Ton ironischer Herablassung in der Stimme.
Ich sehe, wie du unter deinem Anzug aussiehst.
Ich sehe, was du glaubst, sein zu müssen, um dich als Mann zu fühlen.
Ihre Augen huschen zum Bücherschrank, und dort auf das gerahmte Foto mit seinem Heiratsantrag. In den Sand gemalt, am Strand, und umrahmt von einem Herzen aus Muscheln.
Wann hat das aufgehört?
"Mama, wir sind weg", Marion schaut in das Gesicht ihrer Tochter, die immer noch verkniffen drein sieht. "Guck dir das an! Meine Haare! Nur weil Papa mich aus dem Bad geschmissen hat!"
"Mit deinen Haaren ist alles in Ordnung." Sie streicht sanft über das schulterlanger Haar ihrer Tochter. Im Eingang zur Küche sieht sie Lukas, wie er sich eine kleine Flasche Coke aus dem Kühlschrank nimmt, und in seinem Rucksack verstaut. Für einen Augenblick fühlt sie sich von Liebe überflutete. Liebe, die sie empfindet und die sie wie einen Mantel um ihre Kinder legt, ehe sie sie hinaus schickt ins Leben. Sara spannt sich auch nicht gegen die Umarmung, so wie Lukas das tut. Dem ist das als Junge inzwischen ziemlich peinlich.
Als die Kinder, die schon halbe Erwachsene sind, raschelnd die Wohnung verlassen, ruckt ihr Kopf rum zu ihrem Mann, der mit einem Kaffeebecher in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand auf den Schreibtischstuhl sinkt, der vor dem antiken Sekretär vor dem Fenster steht. Der Stuhl geht in die Knie.
Wann hast du das letzte Mal Sport gemacht?
Mit bierernsten Gesichtsausdruck schaltete er seinen Arbeitslaptop an.
Im Anzug fiel das gar nicht so auf.
Sie seufzt und schraubt sich mühsam aus dem Stuhl. Dabei fühlt sie sich wie eine uralte Frau. "Wollen wir morgen nicht mal joggen gehen?"
Er sieht sie verblüfft an.
Erstaunlich, wie voll Kölns Straßen an einem Samstag sind, selbst wenn man nur in den Königsforst zum Joggen will. Dem Aufbruch hatte eine unfreiwillige Komik innegewohnt, denn sie hatte Jan helfen müssen, ein Sport-Shirt zu finden, das ihm noch passt. Die Schuhe passen immerhin noch. Es wäre zu seltsam, wenn er auch auf den Füßen zugenommen hätte. Und überhaupt ist das eigentlich brandgefährlich, wenn er direkt drauf los rennt. So untrainiert wie er ist. Sie würde ihn im Auge behalten.
Er steht an der Ampel, der Blinker klackt.
"Hör ma, wegen des Urlaubs…", versuchts sie es neu, aber er grätscht ihr dazwischen.
" Es ist zu gefährlich und damit Schluss!"
"Sag mal, wie sprichst du eigentlich mit mir?" Tränen der Wut steigen in ih auf. Er steuert das Auto zackig auf einen der vielen Parkplätze vor dem Königsforst.
Sie blinzelt.
Der Wagen steht unter einer Eiche, die nach Wasser lechzt und er steigt einfach so aus. Macht ein paar Dehnübungen und guckt sie nicht einmal an.
"Warum denn nicht, verdammt?" Die Lethargie, mit der sie all das trägt, des lieben Frieden Willens, seit so vielen Jahren, wandelt sich in eine kleine Wut. Ganz zart noch, ist das glühende Pflänzchen.
"Ich habe ein Geburtstagsessen für dich geplant", murmelt er nur so nebenher, als wäre das nicht der größte Affront des Tages, "im Mondial. Wie letztes Jahr."
Sie steigt aus, schlägt die Wagentüre zu und stiert ihn an. Wie er das Knie rücklings beugt und den Fuß zu sich hin zieht.
"Was?", ihr Puls beschleunigt sich. "Wie letztes Jahr? Zu zehnt? Bist du...?"
Sie wirft die Arme in die Luft und schüttelt verzweifelt den Kopf. Irgendetwas reißt da gerade.
"Ich habe Cornelia und Gianluca auch eingeladen."
Sie ist sprachlos. Ihr beste, in Italien lebende Freundin und deren Mann?
Das macht er immer. Er lädt die beiden immer ein und bedauert im Anschluss, dass sie nicht mal flott mehr als 1200 Kilometer fahren können, um in einem Kölner Restaurant ihren Geburtstag zu feiern.
In diesem jovialen Managertonfall.
"Aber", keucht sie, "zu zehnt. Wo du immer so tust, als hättest du Angst vor dem Virus."
Falsch!
Der Riss ist nicht neu.
Und jetzt der andere Fuß
Nur kleistern sie ihn immer aufs neue mit roten Rosen und Muschelherzen zu.
Er streckt ein Bein zur Seite aus.
Und mit romantischen Abendessen.
"Ich tu nicht so", hört sie ihn unterhalb ihres plötzlichen Tinnitus, "Es ist gefährlich."
"Aber anscheinend nur in Italien, was?", schnappt sie, ohne zu wissen, woher sie die Kraft für diesen Tonfall her nimmt.
Und jetzt das andere Bein. Er dehnt sich.
Und Schmuck, denkt sie. Zum Geburtstag schenkt er mir vielleicht einen Diamanten.
Er atmet tief durch und läuft los, zuerst auf dem sonnenbeschienen Parkplatz, bis ihn der Schatten der hohen Laubbäume verschluckt.
Sie läuft ohne den schwachsinnigen Zinnober einfach hinterher.
Sie ist verteufelt gut im Training.
Rasch hat sie ihn überholt.
Anfangs kommen ihnen noch einige andere Läufer entgegen, was er hinter ihr keuchend als zu gefährlich erkennt, denn man könnte sich ja virenverseucht anschwitzen.
Von ihm ungesehen verdreht sie die Augen und weicht in einen Seitenpfad aus.
Stille herrscht hier.
Bis auf die Geräusche der Tiere, gelegentliches Knacken eines brechenden Zweiges.
Und dem keuchenden Atem ihres Mannes.
Ihrer beider gleichmäßiger Schritte.
Sie atmet in gleichmäßigen langsamen Zügen, weicht Unebenheiten geschickt aus springt galant über einen Hundehaufen.
Er hechelt wie eine Dampflock.
Licht und Schatten. Gefleckte Muster aus Licht werfen die Laubbäume auf sie hinunter. Sie dreht sich nicht um, hört nur seinen Atem rasseln.
Sie steigert das Tempo.
"Mein Knie", ächzt er, als er kurzfristig mit ihr auf einer Höhe ist.
Natürlich, dein Knie.
In Wahrheit kannst du nicht mehr, aber du bist ein Mann und musst deshalb besser sein als deine Frau, weshalb du schnell mal einen orthopädischen Grund konstruiert, aus dem wir jetzt aufhören müssen.
Unbeirrt läuft sie weiter.
Vor einem halben Jahr noch wäre sie stehen geblieben und hätte sich nach dem Knie erkundigt.
Aber sie läuft.
Hechtet geschickt um einen gewaltigen Ast, den der letzte Sturm zu Boden geworfen hatte.
Er fällt zurück.
Sie hört ihn gar nicht mehr richtig. Entferntes Keuchen aus anderer Dimension.
Das umkoordinierte Platschen seiner Schuhsohlen auf trockenem Erdpfad.
Und Schließlich nichts mehr.
Sie verringert das Tempo, läuft in gemächlichen Schritten drei Schritte weiter geradeaus, ehe sie sich dazu durchringt, sich umzudrehen.
Und da liegt er.
Weit hinter ihr, mit den Schuhsohlen voraus, rücklings, die Arme weit von sich gestreckt wie ein Gekreuzigter.
Sie lauscht in sich hinein, hört auf einen Impuls.
Da ist ein Impuls.
Einer, der sie vorwärts drängt, nicht zurück.
Sie schwingt herum und läuft weiter.
Nicht zurück.
Weiter.