Oder: Kein Erbarmen.
Warum ich heute, kurz nach dem Aufstehen, an griechische Götter denke?
Ich fange beim Anfang an, nämlich damit, dass ich ein furchtbares Wochenende hinter mir habe, das von ununterbrochenen Nervenschmerzen und der Einnahme unsäglich vieler komplizierter Medikamente gekennzeichnet war.
An Schreiben war nicht zu denken, die veröffentlichten Texte waren längst vorgeschrieben, und manchmal fiel mir auch das Antworten auf die Kommentare schwer.
Einen Text zu den 60-Minutes hätte ich schreiben wollen, aber es ging nicht. Benebelt von Medikamenten war alles, was ich schrieb, voller Tippfehler, weshalb ein anderer Text jetzt mit Verspätung kommt.
Kein Erbarmen ist das Stichwort, und ohne Erbarmen griff er mich an, der Femoralis.
So heißt er, der Nerv.
Wir kämpften zwei Tage und zwei Nächte lang, und obwohl ich im Verlaufe des zweiten Tages merkte, wie ihm die Luft ausging, waren seine letzten Angriffe weiterhin erbarmungslos. Immer wieder, als ob er ein heißes Messer in Händen hielt, bohrte er in meinem Bein herum, obwohl er schon am Boden lag, weil die elektrischen Impulse, die ihm die Kraft dazu gaben, an Intensität verloren.
Am Anfang waren meine Waffen zur Parade wirkungslos.
"Du elender Wichser!", schrie ich ihn weinend an. "Hau ab! verpfeif dich!"
So tappte ich tagsüber benebelt durchs Haus, buk trotz allem, untermalt von Schmerzensschreien, einen Kuchen, um immer mal wieder irgendwo zusammenzusacken, denn seine Attacken sind hinterhältig.
Oft zieht er sich zurück, simuliert das Ende des Angriffs, um aus dem Hinterhalt eine neue Offensive zu starten.
Es scheint vorbei zu sein. Wie immer habe ich gewonnen. Verlieren wäre keine Option.
Und dann schaue ich vorhin in den Spiegel und sehe nichts davon.
Alles, was ich sehe, ist eine müde Frau, deren Haar weder struppig ist, noch sind ihre Augen mit unsäglichen Ringen versehen.
Man könnte sagen, dass ich Glück habe. Noch zwei Kaffee, danach schwimmen, und alles ist wieder gut.
Okay, was will ich damit sagen?
Dass ich wie eine griechische Göttin aussehe, wohl nicht.
Leider.
Obwohl…
Vor vier Wochen.
Wir kauften uns beim Strandhändler zwei Kleider, eines für jede von uns, und sie sind wahrlich extravagant. Dieser Strandhändler hat nicht bloß diese Laibchen im Angebot, die man flott über den Bikini zieht, sondern auch Fetzen, die, im Ethnostil zwar, abseits des Strandes zu tragen sind.
Ich kann sie schlecht beschreiben.
Sie sind aus einem leichten Material, lang, bunt um Blau herum gemustert, tief dekolletiert mit Fledermausärmeln, deren Spitzen bis weit über die Taille reichen. Ihres geht mehr ins Türkise, meines mehr ins Blaue, aber ansonsten sind sie identisch.
Wir wussten nicht, wann wir sie je, abseits Italiens, tragen würden, aber es war gleich, wir liebten sie.
Und so streiften wir sie über, um darin den Abend mit unseren Liebsten oben San Felice Circeo Alto in der Tikki-Bar zu verbringen. Das ist eine Außen-Bar auf einer Art Podest, direkt am Meer, das meterweit unter einem liegt, und Schauplatz vieler meiner fiktiven Geschichten. Besonders der mit Luca und Davide.
Ihr Liebster machte eine Foto von uns.
Das war vor vier Wochen.
Und gestern?
"Guck dir das Bild an, auf dem wir diese Kleider anhaben" , sage ich am Telefon.
Sie gluckst. "Ja, meine Schwiegermutter hat gesagt, wir sehen darauf aus wie griechische Göttinen."
Ich lache. "Warum nicht? Athena und Circe. Circe, weil wir exakt auf ihrem Berg waren."
So führt mich der Gedanke zu einer Frage: Warum würden wir das hier nie anziehen?
Warum sind wir, obwohl jeder von uns einen eigenen Stil hat, so angepasst?
Und warum glättet meinen 23-jährige Patentochter die Haare, damit sie aussieht, wie 95 % aller anderen jungen Frauen in diesem Land?
Ich fange mal mit uns an.
Wir haben die 50 überschritten und bilden uns ein, bestimmte Dinge nicht mehr tragen zu können. Wir denken, wir wären dick, wir denken……… eine Menge Schwachsinn denken wir.
Diese Kleider veränderten etwas.
So etwas ähnliches wie Mut lösten sie aus, der dazu führte, dass ich mir in Florenz sogar diese unsägliche Jacky O. Rayban kaufte.
Und als ich Sie, meine langjährigste und beste Freundin, die im Übrigen so ähnlich aussieht wie ich, das letzt Mal sah, trug sie ein schwarzes Trägerkleid im Ethnostil mit tiefem Ausschnitt.
Witzig war, dass ich mir kurz zuvor, ohne Absprache, so was in gelb kaufte.
"Weißt du noch, wie wir…" ist seither der Beginn vieler unserer Gespräche.
Ja, ich weiß noch, wie es war, als wir jung waren.
Und bei Orsay diese weiten bedruckten Hosen kauften, auf die wir schulterfreie T-Shirt-Bodies trugen.
Und ich weiß noch, wie ich mitten in einer Vorlesung auf die Pipibox musste, und alle aufstehen mussten, um mich durchzulassen - und Professor X mitten in der Vorlesung aufhörte, vorzulesen, mich stattdessen anstarrte, und der ganze Hörsaal lachte.
"Weißt du noch…" Was? Wie schön wir waren?
Oder nicht vielmehr: wie mutig wir waren?
Schön, wie griechische Göttinnen, waren und sind wir höchstens gemeinsam.
Ich habe drei Katzen, zwei von ihnen, Lily und Emma, sind sogenannte Glückskatzen, weiß, mit roten und schwarzen Flecken, bei jeder anders verteilt. Sie sind sehr hübsch, aber ihre Schönheit potenziert sich, wenn sie nebeneinander laufen.
So war es bei uns auch immer.
Leidlich hübsch, aber Göttinnen, wenn wir nebeneinander laufen.
Obschon ich ja jetzt nicht mehr laufe kann.
Das hat sich nicht geändert, nur weil wir inzwischen so alt sind.
Schönheit endet nicht, wenn man älter wird.
Sie endet dann nicht, wenn sie von innen kommt.
Wenn man ist, wer man ist, und zu sich selbst steht, dann ist man schön. Gleich wie viel Falten sich täglich neu einkerben, weil das altern erbarmungslos ist.
Wir müssen nur authentisch bleiben.
Authentisch bleiben…
… und irgendwie gelang uns das in San Felice, oben auf Circes Berg, als griechische Göttinnen.
Dort ruhten wir in uns selbst.
Wir schafften es sogar, etwas davon mit heim zu nehmen.
Wir formieren uns neu, finden uns wieder, besinnen uns darauf, wer wir sind, gelöst von echten oder vermeintlichen Zwängen, und schlagen zurück.
Erbarmungslos
Ich versuche es mit meiner 23-jährigen Patentochter zu teilen, die mir Urlaubsbilder aus Griechenland zeigte. Ihr Haar nicht malträtiert mit dem Glätteisen, sondern frei und wild, und rotblond gelockt.
Eine schlanke junge Frau in ultrakurzer Jeans, eine weiße Kurzarmbluse darüber in der Taille geknotet, die einen Honigtopf zur Kamera streckt. Dahinter das Meer.
"Wer ist denn die junge Frau auf dem Foto", frage ich, obwohl ich es weiß.
"Na, ich", lacht sie laut.
Ich hebe die Brauen. "Ah, okay. Darauf siehst du zauberhaft aus. Frei."
Frei von allem.
Von den Gedanken an die Uni, von dem Ex, der sie stehgelassen hat, sich aber trotzdem dauernd meldet, angeblich um zu fragen, wie sie zurechtkommt. Frei von so vielem, auch vom Vater, der seit 5 Jahren ein Pflegefall ist.
Ich habe sie gefragt, warum sie zuhause immer dieses scheiß Glätteisen benutzt.
"Damit ich nicht auffalle", gesteht sie ein. "Damit ich aussehe wie die anderen."
Aber warum muss man aussehen wie die anderen, wenn man sich damit selbst verleugnet?
Warum sind wir nur Griechische Göttinnen, wenn wir woanders sind?
Auf Circes Berg oder am rauschenden Meer Griechenlands?
Ihr jüngerer Bruder tourte mit einer BMW-Geländemaschine einen ganzen Monat allein durch Italien und holte sich seine Freiheit, und das Vergessen.
Auf den Fotos sieht er aus wie ein griechischer Gott.
Weil er tat, was er tun wollte.