An einem verregneten Novembermorgen vor zahllosen Jahren war mein Auto in der Reparatur und ich musste die Bahn zur Arbeit nehmen.
Mist!
Was auch Mist war, war meine Präferierung dunkler Klamotten, in die gehüllt ich über die Straße zum Kiosk hastete, um eine Tageszeitung und Zigaretten zu kaufen, und danach zur Straßenbahnhaltestelle, wo ich immerhin noch zeitig genug erschien, dem Einfahren der bösen Bahn zuzusehen.
Ich stieg ein und fuhr eine Station.
Um umzusteigen, und dann weitere 3 Stationen zu fahren, doch so weit kam es nicht.
Wenn es nicht Bindfäden geregnet hätte, wäre ich zu Fuß gegangen, tat ich aber nicht, stieg aus, latschte zum Aufzug, der mich zur Hochbahn bringen sollte, aber natürlich war der kaputt.
Auch damals schon war die Infrastruktur der Banane desaströs. Also hetzte ich, die Ampel zeigte grün, als Letzte einer Gruppe Fußgänger vor der Bahn über den Übergang. Der Himmel bleischwer über uns, ein Bimmel und .....
Paff! (In einem Comic wäre das Wort von Blitzen geziert)
Was soll ich sagen?
Frontal erwischt.
Was hier zu vernachlässigen ist, sind die bleibenden Folgen, denn es war nur die Einleitung. Fakt ist, ich hätte tot sein sollen; niemand überlebt so etwas. Ich tat es, feiere seither den Geburtstag dennoch nicht zweimal.
Denn war das Überleben eine neue Chance?
Ich würde das so nicht formulieren wollen, denn "Neue Chance" impliziert eine Veränderung. Es scheint zu meinen, nach dem Erteilen der zweiten Chance, von wem auch immer, etwas anders (besser?) machen zu sollen. Was aber, wenn man so weitermacht wie bisher?
Die Sache hatte, neben den emotionalen, ihre praktischen Aspekte, die es zu regeln galt.
Als die geregelt waren, ging ich wieder arbeiten. Aber eine zweite Chance war das nicht.
Ich war zuvor eine Frau, die, nicht oberflächlich, reflektierte, womit sie im Alltag konfrontiert wurde.
Das war ich danach auch.
Ich lachte gerne und viel und tat es danach auch.
Ich liebte das Leben, die Menschen und die Natur und tat es danach auch.
Sicherlich hat "Das Ereignis" vieles verändert, aber eine zweite Chance ist es nicht. Es ist nur eines dieser unschönen Ereignisse, die ins Leben grätschen. Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt, die einem vor Augen führt, dass es barer Unsinn ist, zu glauben, es träfe immer nur die anderen.
Warum auch?
Wir alle unterliegen dem Zufall, das viele gerne Schicksal nennen.
Im Freundeskreis war ich die erste, die vom Zufall in den Arsch getreten wurde. Oder, wie es mein Lieblingsphilosoph formuliert: Vom Absurden an der nächsten Straßenecke angesprungen wurde.
Inzwischen haben einige andere auch eine zweite Chance bekommen. Ob sie eine frühe Krebserkrankung überlebt hatten, oder auch während eines Unfalls davongekommen sind.
Oder in einem Fall wachte sie morgens auf und ihr Mann lag tot neben ihr. Was einem angeborenen Herzfehler geschuldet war, der 35 Jahre lang unbemerkt blieb und mit plötzlichem Tod endete.........
Ein anderer Freund überlebte mit 43 ein Aneurysma, das beim Husten geplatzt war.
Etwas eint uns: Lebenshunger.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Wollte der eine immer einen Oldtimer, so einen mit einem Hebel außen als Handbremse, der, weil es so unvernünftig ist, nie gekauft wurde: Jetzt steht er da.
Und das ist nur ein Beispiel.....
Manch einer/eine hat es schwer, die neu gefundene Sorglosigkeit seinem Partner zu erklären. Ich meine, alle haben ja so ihre, durch die Medien geschürte, vorauseilende Paranoia.
Bei uns ist die weg.
Das führt natürlich zu aberwitzigen Diskussionen, wie die mit meiner besten Freundin über den Fahrradhelm. Ich würde nie einen tragen. Niemals, ich hasse Kopfbedeckungen, aber sie ist der Ansicht, man müsste, Insbesondere Kinder, aber auch sich selbst, in Schafswolle packen.
Kann ich nicht teilen, denn das einzige Mal, wo ich hätte einen Helm gebrauchen können, war ich zu Fuß.
Würde mich aber nicht wundern, wenn das in dreißig Jahren Vorschrift ist: Einen Helm zu tragen, wenn man aus der Tür tritt.
Oder die Sache mit dem Rauchen: Sie sagte jüngst zu mir, ihr Sohn (14!), habe sie gefragt, warum ich rauche, wo das doch so gefährlich wäre.
Zahlreiche Fragezeichen schwebten über meinem Haupt. "Er weiß aber schon, dass das Leben an sich gefährlich ist, oder?"
So müsste auf der Bedienungsanleitung des Lebens stehen, dass es zum Tode führen kann, aber mir scheint, das wird gerne negiert. In Ermangelung irgendeines Glaubens oder Leitfadens wird die Gesundheitsoptimierung propagiert wie eine Religion oder Weltanschauung. Die Vorstellung des Zufalls kommt darin nicht vor.
Immer muss irgendwer was selber Schuld sein.
Tod scheint vermeidbar, wenn man sich gesund ernährt (hier gibt es mehrere dogmatische Varianten), sich ausreichend bewegt, und gesundheitsschädigendes Verhalten (Radfahren ohne Helm) vermeidet.
Niemand hat mehr Spaß an irgendetwas. Chips? Nein...bloß nicht.. voller Schadstoffe....Zimtsterne? OMG! ...das ist doch Leberschädigend.
Mich macht das verrückt, insbesondere dann, wenn mir das gepredigt wird.
Jeder, der weiß, was mir passiert ist, müsste doch wissen, dass er nur auf meine tauben Ohren stößt.
Nichtrauchen, Chips vermeiden, mit Helm Rad fahren nützt überhaupt nichts, wenn einem morgens auf dem Weg zur Arbeit der Himmel auf den Kopf fällt. Respektive man von einer Straßenbahn umgemäht wird.
Ich neigte zuvor schon nicht zu Extremen, und von Dogmen hielt ich nie etwas.
Aber wenn ich nun etwas ganz schlüssig weiß, dann dass das Leben schön ist. Ich weiß es immer.
Wenn ich hier sitze, schreibe, draußen die Vögel zwitschern und die eine oder andere Katze meinen Weg kreuzt.
Ich weiß es, wenn ich helmlos radele und mich daran erfreue, im Morgennebel zwei Rehe zu sehen.
Ich weiß es, wenn ich am Hühnerhotel vorbeifahre und den frei in der Sonne scharrenden und laufenden Hühnern beim Leben zusehe, das die Bezeichnung verdient hat.
Ich weiß es, wenn ich der Handvoll Schweine des Bauern drei Straßen weiter draußen beim im Schlamm wühlen zusehe. (Landwirtschaft am Stadtrand von Köln. Kaum zu glauben, dass es das gibt)
Ich weiß es, wenn ich meinen Kaffee trinke, denn der Genuss einer gut gerösteten Bohne, ohne Milch und Zucker, ist etwas, wonach ich mich sehnte, als ich monatelang die Plörre im Krankenhaus trank.
Et cetra....die Liste ist endlos....
Ich weiß es aber auch, wenn ich mit einer Zigarette (Schande über mich!)
am Hafen von San Felice (Böses Mädchen, das geflogen ist!)
mit einem Mojito in der Hand (Alkohol verursacht Leberschäden!)
über das glitzernde Meer auf die vom Meerwasser geschliffenen Felsen der pontinischen Inseln schaue.
Das heißt nicht, dass ich aufgehört habe, zu reflektieren. Aber ich nehme nicht mehr so viel besonders ernst.
Das heißt nicht, dass ich oberflächlich geworden bin. Das Gegenteil ist der Fall, je nach Dünnhäutigkeit heule ich bei den 20 Uhr Nachrichten.
Aber meistens lache ich.
Es gibt psychologische Abhandlungen über den Sinn und Nutzen von Humor. Ich würde sagen, er schafft Distanz zu Dingen, die im Grunde tragisch sind.
Was mir schwerer fällt als zuvor, ist Jammern zu ertragen. Normalerweise äußerst empathiefähig, fällt es mir schwer, auszuhalten, wenn Einzelpersonen, denen es objektiv ganz gut geht, ihr Schicksal beweinen. In einem Fall zerbrach daran eine Freundschaft zu einer Frau, die die wirklich tragische Diagnose MS bekam. Ich litt und weinte mit ihr. Drei Monate lang. Ich weiß, dass nicht jeder so gestrickt ist wie ich. Jeder Mensch hat seine eigene Toleranzgrenze der Verletzlichkeit. Aber für mich war es nicht mehr auszuhalten. Nach Monaten keine Entwicklung der Akzeptanz zu sehen, nach Monaten immer noch auf dem Stand von Tag 1.....?
Ich wurde böse. Als ich sagte, dass wir kein Recht hätten, das Schicksal zu beweinen, solange wir nicht auf einem löchrigen, überfüllten Boot, eingepfercht zwischen andere verzweifelte Menschen gen Lampedusa treiben, wollte sie nichts mehr von mir wissen.
Ich wäre kaltherzig, hat sie gesagt.
Das schmerzt.
Aber gut, es war nicht zu ändern. Wir sehen die Dinge eben anders.
Ich bin eben der Meinung , dass wir uns stets bewusst sein müssen, dass das Leben morgen schon zu Ende sein kann und weinen sollten, vor Freude, über jeden Sonnenstrahl auf unserer Haut, über jede Schneeflocke, die unsere Nasenspitze berührt.
In der Tiefe des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt (Albert Camus)