Sie wusste nicht weiter.
Dass ausgerechnet er in diesem Hotel wohnen musste. Nach dem mörderischen Streit vor vier Wochen war sie ihm aus dem Weg gegangen, wo sie nur konnte. Und weil sie miteinander arbeiteten, hatte sie sich sogar krank schreiben lassen.
Das war leicht. Nach ihrem Dienstunfall wollte sie ohnehin jeder aus dem Polizeidienst entfernen.
Eine zeitlang schien alles gut gewesen.
Sie hatte unter Beweis gestellt, dass sie als Polizistin noch dienstfähig war, und sie hatte den Mann ihrer Träume gefunden.
Sebastian, Kollege, Vorgesetzter und Traummann.
Irgendwie war ihr das Leben unheimlich vorgekommen.
Jemand wie sie, die immer aussah wie eine Märtyererin unmittelbar nach der Erfahrung des Martyriums. Und dieser Typ mit der makellosen Erscheinung eines Engels, dem grundanständigen Charakter…
Wenn sie ehrlich wäre, müsste sie zugeben, dass sie förmlich darauf gewartet hatte, dass es schief ging.
Seufzend richtete sie sich in diesem riesigen Hotelbett auf, auf das sie, vollständig angezogen, gesunken war. Mit leerem Blick stierte sie die Hotelbar an. Wein, Bier, kleine Schnapsflaschen, und die Schokoladenriegel.
Lieber nicht.
Als ihr klar geworden war, dass er sich mit seiner Ex getroffen hatte, hatte sie ihm keine Chance eingeräumt, das zu erklären.
Sie war nie an Telefon gegangen.
Sie hatte ihn vor der Tür ihrer Wohnung stehen lassen.
Sie hatte sich vergraben, versteckt, und gefürchtet, weil sie ihn niemals wieder sehen wollte. Und nun war sie hier, weil sie ihren Bruder besuchen wollte. Und er?
Was zum Teufel machte er in Florenz?
Wütend hämmerte sie auf die Matratze ein.
Als sie gestern Abend eincheckte und seine groß gewachsene Gestalt am Ende des glänzenden Foyers hatte stehen sehen, war sie gegen eine Marmorsäule gelaufen. Er war auf sie zugestürzt, um ihr zu helfen, und fast war es gewesen, als würde Freude sein Gesicht überfließen.
Sie sprang auf und raste hinaus. Nicht ohne ein französisches Pärchen über den Haufen zu rennen, und draußen den Standaschebecher mit sich zu reißen. Als sie auf der kleinen Piazza stand, und rasch über die Schulter linste, stand er da. Im Eingang.
Ihren Namen hatte er gerufen.
Er sah enttäuscht aus, oder?
Heute früh, im Frühstücksaal, taumelte sie bei seinem Anblick in den Buffetwagen. Ein gewaltiges Scheppern und Klirren. Verdutzt konsternierte Blicke von Gästen in eleganter Garderobe. Als sie überzogen mit filetierten Orangescheiben und den Fragmenten eines Ei Benedikt im Gesicht wackelig auf die Füße kam, waren da seine Hände gewesen.
Die Kellner plapperten durcheinander, einer kam mit einem feuchten Lappen angedüst, mit dem sie sich säubern sollte. Aber er, Sebastian, hatte etwas gesagt, was sie in all dem Chaos nicht richtig verstanden hatte. "…reden…nicht so…liebe…"
Nein, nein, nein. Sie schlug nach diesen Händen. Schmeckte das Eigelb, das auf ihrer Stirn zerplatzt war und zupfte sich Orangen aus dem Haar. Sie rannte davon, die Treppen hoch, vorbei an dem Brunnen, der auf ihrer Etage vor sich hin plätscherte und entschied, entweder bei Lorenzo auf dem Sofa zu schlafen, oder sich in einem anderen Hotel ein zu buchen.
Das Köfferchen wartete gepackt neben ihr. Schwerfällig stemmte sie sich hoch, riss den Schiebegriff raus und zog ihn hinter sich her. Die Zimmerkarte zog sie aus dem Schlitz. Die Klimaanlage verstummte, und das Licht erlosch.
Hinter ihr fiel die Tür schwer ins Schloss. Als sie den Koffer hinter sich herzog, flackerte die Deckenbeleuchtung.
Der Brunnen hörte zu Plätzchen auf, aber das merkte sie nicht. Der gläserne Gang, der den alten Torre, Teil des Hotels, mit dem Palazzo daneben verband, gleichwohl Teil des Hotels, war ohnehin hell. Sie hielt inne und starrte hinunter auf die Touristenmassen, die sich in alle Richtungen walzten. Dann schlurfte sie weiter.
Trostlos.
Vor Sebastian war ihr Leben auch trostlos gewesen, aber so war es ihr nicht vorgekommen.
Sie drückte den Aufzug, die Tür glitt auf.
Sie ging hinein, stellte den Koffer neben sich. Die Leuchte oben im Lift flackerte. Sie drückte E. und schloss die Augen.
Auf eins glitt die Tür auf. Sie behielt die Augen geschlossen.
Bis ein Ruck durch den Aufzug ging. Sie riss die Augen auf, sah die erloschenen Deckenleuchten, ruckte herum, weil sie jemanden atmen hörte und glotzte entgeistert in sein ebenmäßiges Gesicht. Seine großen dunklen, von langen Wimpern bekränzten Augen glühten.
Entschuldigend breitete er die Hände aus. "Nenne es Schicksal", sagte er weich.
"Was?", schnappte sie und fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. "Dass du auch in Florenz bist?"
Er neigte den Kopf und lächelte traurig. "Nein. Den Stromausfall."
Sie presste die Lippen aufeinander. Wollte nichts sagen, tat es dann aber doch. "Dass du ausgerechnet dann hier sein musst, wenn ich…"
Sachte berührte er ihr Haar. "Nelly. Bist du nicht auf die Idee gekommen, dass ich deinetwegen hier bin?"
"Meinetwegen?"
"Wir müssen reden."