Miriam
Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine Zeit, in der ich allein die Option eines Zerbrechens dessen, was ich für das perfekte Leben gehalten habe, empört von mir gewiesen hätte. Schon einen mikroskopisch kleinen Teil meines Lebens infrage zu stellen, wäre ein Affront gewesen, den ich als persönlichen Angriff gewertet hätte.
Heute, mit Abstand aber, erkenne ich im Fluss meiner Empfindungen zuerst ein Meer diffuser Gefühle, die zu formulieren ein Kraftakt gewesen wäre, weil aus der Formulierung eine Konsequenz hätte folgen müssen.
Dann einen ruhigen breiten Strom. Noch immer nicht formuliert. Und doch mit einer Ahnung, dass das Kostüm, das ich trug, an allen Ecken zwickte. Ich erinnere mich, wie ich manchmal todesmutige Dinge sagte.
Zum Beispiel, als Conny mir von einem Buch erzählte, das sie gelesen hatte.
„Jedenfalls“, quietscht sie begeistert, „geht es um eine Gruppe Leute, die alle aus ihrem Leben ausbrachen, aber noch nicht gefunden haben, wonach sie strebten. Sie kannten sich vor dem Zusammentreffen nicht. Das hat eine total eigene Dynamik.“
„Das klingt nach einem deprimierenden Buch“, wende ich ein, derweil ich einem feuchten Lappen über Janas Schreibtisch wische, die ich in der Schule wähnte. Hoffentlich. Bei Teenagern weiß man das nie so genau.
„Nein, überhaupt nicht. Das ist das Tolle an dem Buch. Dass es total witzig geschrieben ist.“
„Ich glaube, das ist nichts für mich“, flüstere ich. Verstört begucke ich Janas beste Jeans, die, ohne meine Mitwirkung und ohne Saum, zur Short geworden auf dem Schreibtischstuhl hängt.
„Warum denn nicht?“ Ich konstatiere, dass meine beste Freundin seit Studientagen leicht irritiert klingt. Wäre ich auch, denke ich und sage lachend: „Leute, die aus ihrem Lebenskonzept aussteigen? Und das toll finden? Und darüber reden, wie es war? Ehrlich, das zu lesen, ist brandgefährlich.“
In meinem Lachen, das merke ich selbst, schwingt eine leise Schärfe mit.
Ich wollte, dass sie den Mund hielt, weil es gefährlich war, mich auf dumme Gedanken zu bringen, denn was könnte dümmer sein, als das Erreichte zu hinterfragen?
Manisch hielt ich an allem fest, was ich für richtig hielt, obwohl es mir schon lange nicht mehr gut tat. Obwohl es mich aushöhlte und zermürbte. Ich ahnte, was los war, und dass irgendwann irgendetwas passieren würde. Ich initiierte es nicht und nahm es nicht selbst in die Hand.
Aber ich ließ es geschehen.
Es passierte von ganz alleine durch etwas, das Corona genannt wird. Und das viel mehr offenlegte, als menschenverachtende Arbeitsverhältnisse in fleischverarbeitenden Betrieben. Das Virus war wie eine kräftige haarige Männerhand, die jeden Stein aufhob, um zu sehen, was darunter lag. Unter einem dieser Steine lagen wir. Jan, Jana und ich. Die Bilderbuchfamilie. Leben nach dem Premiumangebot des großen göttlichen Plans.
Irgendwann, im September 2020
Wir hatten alle unsere Manien, und die meines Mannes war das Händewaschen. Es löste etwas in mir aus, dass mich wahnsinnig machte. Irgendwann, Anfang September, telefonierte ich mit Cornelia.
Wir taten nichts anderes als telefonieren, weil sie elendig weit weg wohnte. 1268 Kilometer lagen zwischen meinem und ihrem Leben. Zwischen ihr und mir dümpelten die Kilometer und zwanzig Jahre, in denen wir uns selten gesehen hatten. Ich weiß nicht, warum ich mich immer an diese Freundschaft geklammert hatte.
Auch damals, als ich mit Jana schwanger gewesen war, und ich vor lauter Unsicherheit alles dumpf nachäffte, was die anderen Muttis rieten, krallte ich mich an Conny fest. Leicht hatte ich es ihr nie gemacht. Später begriff ich, dass sie mir immer etwas hatte sagen wollen. Und dass sie als Freundin nur deshalb noch existierte, weil sie sich zurückgehalten hatte, denn ich wäre explodiert, wenn sie es gewagt hätte.
Aber jetzt telefonierten wir, und es war anders als sonst, denn zum ersten Mal verspürte ich eine verzehrende Sehnsucht danach, sie zu treffen. Dieses irre Jahr, das noch nicht rum war, stresste mich. All die anderen Freundinnen stressten mich, weil ihre Probleme den meinen so ähnlich waren.
Home-Schooling, Home-Office, Home-Trainer, Home-Waer, das hatte ich alles at home. Was ich nicht hatte, war zum Beispiel eine kinderlose Freundin ohne Home-irgendwas. Das Wort Homeless bekam plötzlich eine neue Bedeutung. Conny arbeitete als Psychologin immer zuhause. Na ja, fast. In einer Praxis, die im Untergeschoss des Hauses lag, in dem sie und ihr Mann Luca ihre Eigentumswohnung hatten.
„Als ich eben auf dem Klo saß, überlegte ich, ob Fliegen ein Bewusstsein haben“, sagte sie gerade, als ich, im grauen Schlafshirt, an meinem Kaffee nippte.
Ich lachte. Mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa sitzend linste ich aus dem Fenster auf die Wäsche, die auf der Spinne flatterte und im Begriffe war, zu trocknen. Ich würde sie abhängen müssen, und falten. Zum Teil bügeln.
„Ein Bewusstsein“, sagte ich, ohne es wie eine Frage klingen zu lassen. Aber ich spürte, wie meine Gedanken die Frischwäsche verließen und zu Cornelia kamen. Das war neu.
„Du kennst mich doch. Irgendwie schien sie gestern Abend trotz des Fliegengitters rein gehuscht zu sein. Seither irrt sie summend umher. Und weil sie eindeutig am Ende ihrer Kräfte ist….“
„Hast du dich gefragt, ob sie sich ihres Endes bewusst ist.“
„Genau.“
„Aber dafür hast du nicht Psychologie studiert.“
„Irgendwie doch. Also, wie sieht es aus?“
Innerlich zuckte ich zusammen. Natürlich war ich auf die Frage vorbereitet, denn sie schwebte wie eine Drohung zwischen uns. Die Frage, ob wir in den Herbstferien zu Cornelia und Gianluca flögen. Nicht, dass wir das oft getan hatten. In zwanzig Jahren flogen die beiden eher nach Köln als wir nach Italien, was mir völlig absurd vorkommt, weil die zwei ein Ferienhaus am Meer haben.
Plötzlich fragte ich mich, warum wir jedes Jahr nach Teneriffa flogen. Oft mit Susanne und Erik, einem befreundeten Paar mit einem Sohn in Janas Alter. Aber auch alleine.
Noch war ich der Ursache dafür nur instinktiv auf der Spur. Ich wusste, dass Jan sich nicht drauf einlassen wollte, und es nie gewollt hatte. Doch ich ahnte noch nicht, dass das weniger mit Italien als mit Cornelia zu tun hatte. Nicht mit ihr persönlich. Es war etwas anderes, aber ich klammerte fest an dem Gedanken, dass mein Mann, aus Gründen, die ich nicht kannte, etwas gegen Italien als Reiseland hatt.
Ich war echt prima darin, mich an etwas zu krallen, das mich hinderte, den Vorhang zu lupfen, um hinter die Kulissen meiner vermeintlichen Gewissheiten zu schielen.
„Ich arbeite daran“, gab ich verlegen zurück. „Jan will nicht fliegen. Er ist fest davon überzeugt, dass wir uns im Flieger alle mit Covid anstecken, und wenn nicht in der Maschine, dann in einem der Flughäfen. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Der Mann besteht aus Angst, Angst, Angst. Ob das eine Midlife-Crisis ist? Es nervt gewaltig, und mit dem Auto ist es ihm zu weit. Aber ich glaube, das Hauptproblem ist, dass ihr in Italien wohnt."
„Ts." Ein vage verächtliches Lachen drang durchs Telefon. „Es gibt keinen besseren Zeitpunkt. Noch nie war Florenz so leer und nie wieder wird es so leer sein. Alles hat geöffnet, aber alles ist ursprünglich. Ich erlebe meine Heimat neu, und wenn ich sie euch jetzt zeigte, hätte sie ihren eigenen Zauber.“
„Ich weiß, Conny“, seufzte ich. Aber sie plapperte munter weiter. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. Sie redete sich in Rage und kam am Ende immer bei Wut raus.
„Die ersten Touristen, die kamen, waren Landsleute und die Führungen muttersprachlich. Ich habe einige mitgemacht und Dinge über Dante erfahren, die ich zuvor nicht einmal ahnte. Seit Mitte August kommen ein paar Touristen aus Deutschland und Holland. Und ein paar Franzosen, aber das ist nichts im Vergleich zu den Massen, die wir hier sonst haben. Ach, und Engländer. Die Engländer sind dieses Jahr überall. Als wollten sie noch mal die Welt sehen, ehe sie wegen des Brexits ein Visum für jeden verdammten Schritt aufs europäische Festland brauchen.“
Ich schloss die Augen und sah sie erregt mit einer Hand herum fuchteln.
„Ein Visum brauchen wir ja nicht“, warf ich lächelnd ein.
„Ne, das nicht. Da würde schon Wille genügen, aber dein Jan macht ein Gedöns, als wäre Corona Ebola.“
„Ich weiß. Wie gesagt, ich arbeite daran.“
Ich fühlte, dass dies wieder einer der Momente war, in denen sie mir etwas sagen wollte. Es war die Art, wie sie atmete. Die Länge der Pause und der sanfte Tonfall, mit dem sie das Nächste, das Belanglose sagte. „Alora, ich muss. Hab den ersten Termin in einer Stunde.“
„Schlimm?“, fragte ich halb interessiert, denn zum ersten Mal schwebte heran, was das Nichtausgesprochene war. Früher, dachte ich, war das Gefühl nicht so präsent.
Conny schnaubt belustigt. „Nicht schlimmer als dein Mann. Angst, Angst, Angst, nur bei der Trulla sind es die Migranten, die sie fürchtete. Sie ist eine glühender Salvini-Anhängerin. Er ist schwer zu ertragen. Aber ich gebe mein Bestes.“
„Okay. Der Rest per chatt“.
„Ciao.“
Das Problem ist nicht Corona. Ich wedelte den Gedanken am Abend weg, wie ein lästiges Insekt, als ich meinem Mann beim Nachhausekommen beobachtete. Beim Händewaschen.
Der Tag war überraschend schön gewesen. Nach dem Telefongespräch war ich unter die Dusche gehüpft, hatte mich so weit aufgebretzelt, wie man das fürs Home-Office tun musste, um nicht zu verwahrlosen. Ich gestand mir ein, es genossen zu haben, dass er in der Firma erwartet worden war. Wegen eines Teilaspektes des aktuellen Projekts, das sich nicht via Schalte besprechen ließ. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt allein Zuhause gewesen war. Und auch an jenem Tag war ich nur alleine, weil Jana bis vierzehn Uhr in der Schule war. Allen Unkenrufen zum Trotz hatten die Schulen gerade mal auf. Man schwafelte im Vorgriff auf den Herbst von Filteranlagen, die sowieso nicht gekauft würden, weil sie den Staat Geld kosteten. Stattdessen erwägte ich, meiner vierzehnjährigen Tochter einen Schlafsack zu kaufen, in den sie sich im dauerstoßgelüfteten Klassenzimmer würde einmummeln können. Über Tag verspürte ich immer weniger Lust, zu arbeiten. Ich räumte das Wohnzimmer auf, weil es diesmal nicht sofort wieder verwüstet wurde, denn es war ja keiner da.
Jedenfalls für eine Weile.
Jetzt war die Weile vorbei.
Jana lümmelte im Garten herum und Jan wusch sich die Hände. Seit einer gefühlten halben Stunde schon.
Das Problem ist Italien, oder?
Aber so lange, wie er wäscht, könnte es doch Corona sein.
Er schrubbte und schrubbte und schrubbte… Das Händewaschen war zu einer echten Manie geworden. „Miriam! Wo ist denn die Wurzelbürste?“, fragte er über das Wasserrauschen.
„Im Schränkchen unter dem Becken.“
„Was?“
Sein Kopf guckte seitlich am Rahmen heraus, und für einen feinen Moment erfreute ich mich seines Anblicks. In einem gut geschnittenen Anzug machte er noch immer eine gute Figur. So ein Anzug kaschierte bestens, dass er wer weiß wie lange keinen Sport mehr gemacht hatte.
„Im Schränkchen.“ Ich stand neben ihm, lächelnd, und deutete auf den Schrank. Er lächelte nicht zurück, und obwohl ich unbedingt nach Florenz wollte, entschied ich, dass heute nicht der Tag wäre, das zu klären.
Später wurde mir natürlich klar, dass es nie den richtigen Zeitpunkt gab, wenn man einem unweigerlich folgenden Konflikt aus dem Weg gehen wollte.
(Die Geschichte könnte noch endlos weitergehen, aber die Zeit ist um)