Knarzend schlägt die silberbeschlagene Pforte hinter ihm zu, sperrt den Mond aus.
Es ist ein erbärmlicher Mond, der im Morgengrau verblasst, so wie er alles erbärmlich findet, seit er sich in seinem Leben verlaufen hat. Er hat keinen Schimmer mehr, wann er falsch abgebogen ist, wo der Irrgarten aus Gefühlen seinen ersten Baum gepflanzt hat. Und die meiste Zeit hat ihn das Umherirren ja auch nicht gestört. Es scheint aus ihm selbst zu kommen.
Vor tausend Jahren gestorben, lebt er schon so lange seinen Tod, dass er die Hoffnung, das alles würde mal ein Ende finden, längst in den Wind geschlagen hat.
Er friert und zieht den Mantel enger um sich. Im Längsschiff der Kirche scheint die Luft dunstig. Wabernder Nebel unten am Boden, als läge unter ihrem Fundament direkt die Hölle. Aber er gibt sich keiner Träumerei hin. Jeder Ort atmet die Momente, die ihn prägten, und in eintausend und mehr Jahren hat er auf vielen Schlachtfeldern gestanden, auf denen tausende oder nur einer das Leben gelassen. In einem Krieg oder durch eine Gräueltat, und diese Kirche ächzt bloß einen Mord. Als er eingetreten war, hat er die Menschenmassen in Panik schreien hören. Fragmente von Bildern eines lang zurückliegenden Ereignisses. Bunte Kleider, aufgetürmte Frisuren, offene Münder. Wie Blitze, immer wenn er geblinzelt hat. Eine gesichtslose Maße, die sich, auf das offene Portal zustürmend, verengt, die Pforte verstopft, und doch hinaus geschleudert, als würde sich ein Pfropfen lösen, während zwischen den Bankreihen ein junger Mann, in einer Lache seines eigenen Blutes, mit dem Tode ringt.
Das ist alles. Mit ihm hat das nichts zu tun. Das bedeutet der Nebel.
Und wahrscheinlich sieht nur er den Schwaden, weil ihm das Privileg der Sterblichkeit nicht gewährt wurde. Wenn es den Dunst gäbe, wenn er real wäre, dann gäbe es vielleicht die Hoffnung auf eine Hölle. Nicht, dass er es angenehm fände, dort zu schmoren, und das würde er gewiss, aber Außermenschliches der dunkelsten Engel wäre ein Beweis. Dass ein Ende möglich ist.
Aber warum?
Sein Mantel schwingt, als er herum ruckt. Außer ihm ist hier niemand. Oder? Seine Sinne, geschärft, als wären die Jahrhunderte spurlos an ihnen vorbeigeflossen, wie sie auch ihre Krallen nicht in sein Gesicht hatten schlagen können, machen Schritte aus. Hauchzart.
Ich meine, unsterblich zu sein, ist doch das, was sich die meisten Menschen wünschen.
Eine Frauenstimme. Sein dunkler Blick irrt nicht umher, er bohrt sich in die sieben Höllenkreise auf dem Gemälde, das die karge Wand ziert. Der Dichter darauf zeigt auf ein Buch und scheint ihn anzusehen, aber die Stimme kam aus einer anderen Richtung.
„Mein Wunschtraum war das nicht“, ruft er. Sollte sich irgendwo ein armes Sünderlein, betend ins Gebet versunken, auftun, würde es jetzt böse um Ruhe zischeln. Aber da kommt nichts.
Was war es dann?
Die Stimme klang vertraut, und doch wieder nicht. Die richtige Stimmfarbe in falscher Intonation, sodass sie zuerst eher verwirrt, aber könnte es sein, dass sie…?
Lächerlich. Ein Wunschtraum. So wie sie es immer gewesen war, in der Lebensspanne, die dem Menschen zugedacht, sein Leben gewesen war. Sie. Sein Wunschtraum.
Bist du sicher?
Genervt spannt er den Mund. „Was soll das? Findest du es nicht anmaßend, in mein Herz zu sehen, wo wir uns einander nicht einmal vorgestellt haben?“
Er war es. Er war dein niemals geträumter Traum. So wie du seiner warst. Ich habe es gesehen, als er noch lebte. In der Lebensspanne, die einem Menschen normalerweise zugedacht ist, wie du es vorhin so trefflich gedacht hast.
„Was?“ Die Stimme kommt vom Altar, auf den er einen Schritt zugeht.
Abgestimmt ward ihr. In Rhythmus und Gebärde, dass selbst die Luft zwischen euren Körpern sich zu einer stetig wechselnden, doch immer einigen Figur aus schierer Harmonie zusammenfand.
„Was?“
Früher warst du eloquenter.
Etwas in ihm zwingt ihn zum Lachen. Trocken, nicht besonders kalt. Jetzt stimmten ihre Intonation und Klangfarbe miteinander überein.
Dein Lachen klingt bloß ein wenig eingerostet.
„Es tut mir leid. Er hatte es mitgenommen, als er starb.“
Das stimmt nicht. Dann wäre es ja jetzt nicht hier, das Lachen.
Auf seinem vorsichtigen Weg zum Altar hält er inne. Bei aller zwitschernden Geschmeidigkeit stockte ihre Rede merklich, was seinen Verdacht zu bestätigen schien.
Verdacht?
Oder nicht eher eine närrische Hoffnung?
Ein Wunschtraum vielleicht.
Du hast ihn geliebt. Das ist die Erklärung für alles. Es ist die einzige Erklärung, mit der alles einen Sinn ergibt, was du getan hats. Und es ist gut. Es ist gut so.
Es reicht. Mit zwei schnellen Schritten ist er exakt vor dem Altar. Er breitet die Arme aus, als wollte er sich präsentieren, sieht aber unbeirrt am Kreuz vorbei, wo er die Stimme vermeintlich herkommen hörte. Aber plötzlich ist sie hinter ihm.
„Cesare?“
Er wirbelt herum. Direkt mit dem Rücken zum doppelflügeligen Portal steht sie. Das Portal, das jetzt geöffnet wird, und durch das sich die Maßen quetschen, vorgeblich zivilisiert, doch verstohlen geifernd nach der Sensation der gewaltigen Kuppel, unter der sie stehen, zu der sie alle aufschauen wollen. Ihm ist, als hörte er ein verzweifeltes Stöhnen. Aber das ist nur Giuliano de Medici, der hier starb, dessen Ruhe Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag gestört wird.
Die Orte, die atmen. Die Geister der Toten, aber all das ist ihm jetzt gleich. Die Menge treibt sie weiter vor, zu ihm hin. Sie sagt etwas, dass er im Gewirbel der Stimmen unmöglich verstehen dürfte, aber er hört es. „Ihr habt auf mich gewirkt, wie ein Mensch, er und du. Gezogen an Silberfäden von der Hand eines anderen. Des allen Verwandelnden.“
"Du irrst dich." Er schüttelt er andeutungsweise den Kopf.
„Was mich betrifft, hast du die Fäden gezogen.“
Jetzt schüttelt sie den Kopf, um dann mit dem Kinn zum Ausgang zu zucken. Im Lichtstrahl steht sie, wie Leuchtkäfer von Staubkörnern umtanzt.
Und dann gehen sie.
Ihm ist, als fiele ihm die Last der Unendlichkeit von der Schulter. Mit jedem Schritt ein wenig mehr. Ohne einander zu berühren, genießen sie das schwingende Schreiten hinaus, in einem Strahl vollkommener Beglückung.