„Guck dir den Schwachkopf an.“ Marco deutete nach vorn, auf den Sportwagen, aus dem eben in hohem Bogen ein To-Go-Becher geflogen kam. Die Zeit, die es bedurfte, um darauf zu antworten, ließ mir der Becher nicht. Er flog auf die Gegenfahrbahn, wurde von einem LKW hochgeschleudert, und landete auf unserer Frontscheibe. Ich zuckte zusammen und beschied, dass es reichte. Die Kiste, die wir fuhren, war auch nicht eben lahm, der Verkehr ohnehin stockend.
„Orlando“, lachte er. „Hey! Da ist aber jemand angepisst!“
Bald klebten wir dem Vogel auf der Stoßstange. „Hohl das Blaulicht aus dem Handschuhfach“, verlangte ich.
Marco klappte es auf und spähte rein. „Da ist es nicht.“
„Muss aber“, presste ich raus.
„Es sind Handschuhe drin.“ Er wedelte mit einem davon von meiner Linse herum.
„Hör auf. Lass‘ es.“
„Wie du willst.“ Er feixte. Natürlich war es da. Er setzte es aufs Dach, es orgelte vor sich hin, aber es dauerte noch knappe fünfzehn Minuten, bis es mir gelang, die Arschkrampe voraus zu überholen, und zu nötigen, auf den nächsten Parkplatz zu fahren.
Ich stieg alleine aus. Marco war der Ansicht gewesen, so eine Lappalie wäre Angelegenheit der Policia Municipale. Er wirkte genervt.
Der Mann, ein untersetzter Mittvierziger, der Reichtum ausdünstete, kraxelte umständlich aus dem zu niedrigen Wagen, in einer Hand ein in Papier gewickeltes Pannino, und guckte mich irritiert an.
„Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?“ Ich zeigte ihm meinen Ausweis.
„Keine Ahnung“, murmelte er kauend.
„Ich fasse es nicht.“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. „Sie werfen Müll in die Landschaft. Sie…“
„Das ist nicht Ihr Ernst, was?“ Der Bursche baute sich bedrohlich vor mir auf.
„Es ist mein voller Ernst. Sie haben…“
Ich zuckte zurück, als mir der Idiot das halbe Pannino ins Gesicht warf. „Ne Schwuchtel im Polizeikostüm sagt mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe.“
Einen Moment schloss ich die Augen. Diese Art Reaktion gab es, aber sie war selten. Es würde sie nie geben, wenn ich breitbeinig wie ein Rodeoreiter herum stelzen würde, und dann war da noch die Sache mit meinen Augen. Aber so what? Sinnlos, vorzugeben, jemand anderes zu sein.
„Sie geben mir Ihre Personalien“, forderte ich. Vorgeblich, um meiner Aufforderung nachzukommen, griff der Typ ins Jackett, verpasste mir einen Schlag ins Gesicht, dass ich einen Satz nach hinten machte und auf dem Arsch landete. Ich ignorierte das Blut, das mir aus der Nase lief.
Sofort schnellte ich hoch. Es kam mir flink vor, aber Marco war schon da, und ehe ich mich versah, hatte der Bursche dessen Faust im Gesicht.
„Steh‘ auf.“ Die Hand hielt er mir nicht hin, aber ich stand auf, während er dem Mann die Hände auf dem Rücken fixierte. Was er ihm sagte, verstand ich nicht, wohl aber, dass er die Streife anfunkte, damit sie ihn abholten.
"Wer…was…?", stammelte der Blödmann.
"Wenn Sie meinen Kollegen das nächste Mals sehen", gab Marco trocken zurück, "versuchen Sie Begeisterung zu heucheln. Sehen Sie ihn mit einem breiten Grinsen an. Das ist nur zu ihrem Vorteil."
Er schubste ihn voraus, stieß ihn ins eigene Auto und sperrte ihn darin ein.
"Ich könnte in der Nähe sein." Er klopfte dreimal aufs Dach, ehe er den Schlüssel in der Jackentasche verstaute, aus der er ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten klaubte.
Als er sich eine anzündete, nuschelte er: „Lass‘ dich von den Kollegen, die ihn abholen, fotografieren.“
Ich nahm das Taschentuch weg, mit dem ich mir die Nase tupfte. „Warum?“
„Er hat Prügel gekriegt. Nachher erzählt er Ammenmärchen über Polizeigewalt.“ Er inhalierte tief.
„Märchen?“, fragte ich entgeistert. „Du hast total überreagiert.“
Er hob nur eine Hand, und ich gab es auf. Die Sonne brannte heiß auf den Parkplatz. Mir pappte die Zunge am Gaumen, aber ich rührte mich nicht. Ich sah ihn von der Seite her an, versuchte, zu ignorieren, wie heiß mir das Blut durch die Adern floss, und dass ich zugleich stinksauer auf ihn war.
Dieser Mann machte mich wahnsinnig. In den zwei Monaten, in denen wir zusammen arbeiteten, hatte er mich Nerven und schlaflose Nächte gekostet. Er war unbegreiflich. Unbegreiflich…
Er war das unbegreifliche Nebeneinander von Menschlichkeit und Grausamkeit. Das Vorhandensein von Gut und Böse in ein und demselben Gefäß.
Wir stehen nicht zwangsläufig auf der richtigen Seite, nur weil es unsere Seite ist.
Neben ihm zu stehen, zu sitzen, zu fahren oder auch nur mit ihm unserer Arbeit nachzugehen, war das Einzige, was ich von ihm bekommen konnte. Neben ihm zu stehen, statt genau vor ihm, war außerdem besser zu ertragen, weil ich ihn dann nicht frontal betrachten musste. Scharfe Wangenknochen, ausrasierte Schläfen, mittellanges dichtes Blondhaar am Oberkopf, verliehen ihm, und das wusste er, eine Aura verlotterter Eleganz. Eine Legion von Menschen hatten sich bereits vor ihm gefürchtet und gut daran getan. Andere hatte er aus ausweglosen Lagen befreit.
Nur so. Weil er es konnte. Und weil es unser Job war. Und weil ein Herz in ihm wohnte.
Der Schotter knirschte, ich schaute auf. Der Streifenwagen hielt an, zwei Kollegen stiegen aus.
„Marco Diamante und Orlando Pasqua“, stellte Marco uns vor. „Kripo Terracina.“
Er löste sich von der Motorhaube, aber bevor er mit den Kollegen zum Sportwagen des Schwachkopfes ging, tat er etwas. Mit einem Finger strich er mir sanft unter dem rechten Auge. „Dein Kajal ist verschmiert.“
Scheiße, dachte ich. Wie konserviere ich die Berührung jetzt?