Es schien nicht schwierig. Zumindest hatte Talvi ihrer Tochter vermittelt, dass sie harmlos würde – die OP.
Zuerst hatte sie vor Solveigs Urlaub durchgeführt werden sollen. Talvi war wenige Wochen zuvor im Krankenhaus gewesen. Um sich aufnehmen, und um die Voruntersuchungen über sich ergehen zu lassen, aber dort hatte niemand zur Kenntnis genommen, dass sie unter insulinpflichtigem Diabetes litt. Deshalb war versäumt worden, ihr zu den richtigen Uhrzeiten das korrekte Essen zu reichen. Als sie in der Nacht, wegen Unterzuckers kollabierte, war sie wenigstens schon im Krankenhaus. Leider schickte man sie am anderen Morgen wieder heim, ohne sie zu operieren. Dabei tönte ein Arzt naserümpfend, man könne sie mit so miserablen Werten nicht operieren.
Wessen Schuld war das denn?
Also fuhr Talvi nach Hause. Wartete auf einen neuen Termin, und als der feststand, verschob sie ihn, trotz Solveigs Bitten nicht, weil sie vor Schmerzen kaum laufen konnte. Sie wollte das hinter sich bringen.
„Fahr‘ in den Urlaub, Mäuschen“, hatte sie gesagt. „Es wird halb so wild.“
Am Tag nach der OP war Solveig mitsamt Anhang, bestehend aus Freunden und Partnern, bereits einige Tage am Meer. Als sie im Klinikum anrief, fand man ihre Mutter nicht.
Ihr brach der Angstschweiß aus. Kaum imstande, das Telefon zu bedienen, um nach der Nummer der Intensivstation online zu suchen, fiel es in den Sand. Sie schrak zusammen, als Marc es aufklaubte, sich ihre Finger berührten. Fragend sah er sie an. Sie nickte schwach. Erlaubte, dass er sich durch fuchste, lächelte dankbar, während er sein Sprüchlein aufsagte, und ihr das Gerät zurückgab, nachdem er mit einer diensthabenden Ärztin gesprochen hatte.
Ja, die OP wäre plangemäß gelaufen. Mit dem Zucker wäre alles okay. Talvi wäre vorsichtshalber auf der Intensivstation, sie wäre mit 79 nicht mehr die Jüngste und es wäre besser, sie engmaschig zu überwachen.
Anderntags konnte Solveig mit ihrer Mutter reden. Erleichterung machte sich aber erst breit, als Talvi, wieder einen Tag später, auf die Normalstation verlegt wurde.
Die nächsten Tage, die Solveig mit ihrer Mutter sprach, war sie anschließend relativ gelöst. Zwar vermochte es Talvi derzeit nicht, das linke Bein zu bewegen, aber die Nerven waren nicht geschädigt. Man würde nach der Ursache suchen, sei aber guter Dinge.
Solveig, auf der Sonnenliege unter brennender Sonne, spähte über den Strand. Tippte dabei das Telefon ans Kinn. Dachte nach. Vorn spielte ein Paar Strandtennis. Die Wellen rauschten leise, Luftmatratzen schaukelten auf den Wellen und hinter den roten Bojen jagten die ersten Miet-Schnellboote zurück nach Terracina. Sie warf einen Blick auf die Uhrzeigenanzeige des Handys, um zu konstatieren, dass es bald 18 Uhr waren.
Das hatten ihr die zurück rasenden Boote schon geflüstert. Und die Sonne, die jetzt von hinten stach.
„Und?“ Jana plumpste auf die Liege neben ihr und schnappte sich ein Handtuch, das sie sich um die Haare schlang.
„Sie klingt kämpferisch. Wie immer.“ Solveig zuckte die Schulter. „Aber die Schmerzen sind heftig, und dass sie vom linken Bein nur die Zehen bewegen kann, macht mir Sorgen.“
Solveig legte ihre Hand auf Janas, die zärtlich auf ihrem Knie ruhte. „Wahrscheinlich mache ich mir zu viele Sorgen“, lächelte sie schief.
Anderntags, am Nachmittag, schwamm sie raus, nachdem sie lange gesucht, und Marc, Jana und Lorenz hinten bei den weißen Bojen entdeckt hatte. Obwohl es nicht zum Lachen war, lacht sie, verschluckte sich fast am Salzwasser, als sie, in deren relativen Nähe angekommen, rief: „Im Uni-Klinikum tobt der Punk!“
Jana, eine Hand an der Boje, runzelte sichtbar die Stirn. „Der Punk? Wieso?“
„Meine Mutter hat die Polizei gerufen!“ Solveig kraulte ein Stück.
„Was?!“ Die anderen schwammen ihr entgegen, waren dann gleichauf.
„Meine Mutter“, japste Solveig, „hat die Polizei gerufen. Sie hatte nachts Schmerzen und nach der Schwester geklingelt. Die kam nicht, sie klingelte erneut. Die Schmerzen müssen schlimm sein, und das hat sie der Schwester dann gesagt.“
„Und?“ Jana dümpelte neben Marc und Lorenz in den sanften Wellen.
„Die Schwester hat die Klingel ausgestellt und die Tür zugemacht. Dann hat…“
„…Talvi die Polizei gerufen“, vollendeten die anderen unisono. Sie kannten Talvi seit 30 Jahren und waren nicht verblüfft. „Was hat sie gesagt“, wollte Marc wissen.
„Sie nannte ihren Namen, in welchem Krankenhaus sie liegt, auf welcher Etage und auf welcher Station, und dass sie nicht versorgt wird. Etwa zwanzig Minuten später kam eine Nachtschwester von einer anderen Station und kümmerte sich um sie.“
Sie lachten alle, obwohl es nicht zum Lachen war. Aber es passte zu Talvi, die noch immer sie selbst ist.
„Das sollte man jedem empfehlen, der nicht ordentlich versorgt wird“, meinte Marc. „Zu den anderen Bojen oder zurück zum Strand?“
Nur hörte Talvi mit den folgenden Tagen auf, sie selbst zu sein.
Solveigs Sorgen wuchsen.
„Sie klingt ganz verwaschen. Sie ist nicht bei sich. Und einen Arzt erreiche ich auch nicht.“
Sie erreichten tagelang keinen Arzt.
Längst aus dem Urlaub zurück, sieht sich Solveig mit einer schwerst pflegebedürftigen Mutter konfrontiert, die nicht imstande ist, allein aus dem Bett aufzustehen, aber vor allem lallt, Wortfindungsstörungen hat und immer wieder Absenzen.
Einen Arzt findet sie nicht.
In dieser verdammten Uni-Klinik scheint es keine Ärzte zu geben!
Sie wartet drei Stunden, hinterlässt vier Telefonnummern, unter denen sie zu erreichen wäre, aber niemand ruft an.
Ärzte, die sie auf dem Gang trifft, gehören in eine andere Station und wissen von nichts. Pfleger verweigern die Antwort.
„Weshalb kommen Sie erst jetzt?“, ist das Einzige, was sie hört.
„Das geht Sie nichts an“, murmelt sie und fährt heim, wofür sie anderthalb Stunden braucht, weil sie nicht in derselben Stadt wohnt wie ihre Mutter.
Außerdem hat sie eine Arbeit und eine Familie, sodass sie erst zwei Tage später wieder im Zimmer ihrer dahin vegetierenden Mutter sitzt, deren Hand hält, und versucht, herauszufinden, was los ist.
„Die Medikamente“, hat Jana am Vortag vermutet. „Oxicodon ist schon starker Tobak, und wenn sie die RLS-Medikamente, die sie sowieso schon nimmt, weiter nimmt, in Kombi vielleicht?“
Jedenfalls trifft Solveig nie einen Arzt und wird auch nicht zurückgerufen. Ihre Mutter lallt nur noch oder dämmert weg.
Erst als Solveig dem Beschwerdemanagement eine sachlich vorgetragene aber gesalzene Nachricht hinterlässt, verspricht man ihr, dass sie am Dienstag einen Arzt sprechen könne.
Sie nimmt Jana mit, weil sie ihre beste Freundin ist – und wartet vier Stunden, in denen eine junge Ärztin vorüber schwebt, die verkündet, man müsse noch ein Konzil abhalten, es wäre eben erst ein neues MRT gemacht worden.
„Ein Konzil?“ Jana zieht die Brauen zusammen. Wie viele Kardinäle werden den anwesend sein?
Im Zimmer ist es kaum besser als zuvor. Zwar erkennt Talvi Jana und freut sich, aber danach dämmert sie wieder weg.
„Verstehst du, was ich meine?“ In Solveigs Augen stehen Tränen. „Das ist nicht meine Mutter. Ich verstehe das nicht. Nach der OP war mit ihrem Kopf alles in Ordnung.“
Janas detektivischer Spürsinn verbündet sich mit angeborenem und durch Erfahrung gepflegtem Zynismus. „Warte mal“, wispert sie, derweil ein Pfleger hereinkommt, sie nachlässig grüßt, und Talvi ein durchsichtiges Ding mit Tabletten hinstellt. Während Solveig ihrer Mutter hilft, die drei Pillen einzunehmen, fragt Jana den Pfleger: „Was ist das, was Sie ihr da geben?“
Der reißt die Brauen hoch. „Was im Medikamentenplan steht.“
„Was steht denn im Medikamentenplan?“ Janas Tonfall ist scharf.
„Pregabalin und das Schmerzmittel.“
„Gegen die Schmerzen hat sie doch eben eine Spritze bekommen.“
Ohne zu antworten, entschwindet der Pfleger.
Er kommt eine Stunde später, mit neuen Tabletten zurück.
„Was ist das“, will Jana wissen.
„Pregabalin, wieso?“ An einer Antwort ist der Pfleger nicht interessiert, er huscht schon durch die Tür.
„Das hat er doch eben schon… Solveig, gib ihr das nicht. Ich frag den Burschen mal.“ Jana schlüpft auf den Gang, wartet ab, bis der Pfleger aus dem Nebenzimmer zu seinem Medikamentenwagen zurückkehrt. „Junger Mann“, macht sie auf sich aufmerksam, „Das haben Sie ihr vor einer Stunde schon mal gegeben.“
„Was?“, herrscht er sie an.
„Das Pregabalin. Wieviel Milligramm sind das denn immer?“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust.
„200 Milligramm. Das bekommt sie doch wegen der neuropathischen Störungen, die nichts mit der OP zu tun haben.“
„Ja, aber nicht X Mal am Tag.“
„Sie hatte die letzte Gabe am Morgen.“
„Nein, vor einer Stunde.“
Der Pfleger tut entsetzt. „Huch“, entgegnet er wenig überzeugend. „Das ist mir dann durchgegangen.“
„Natürlich. Nehmen sie das Zeug wieder mit.“
Er nimmt es mit. Doch während sie wenig später in einer Aufenthaltsecke neben dem Schwesternzimmer an einem Tisch sitzen und auf den Arzt warten, rechnen sie durch, wie viel Pregabalin Talvi verabreicht bekommt. Um sicherzugehen, verlangen sie nachdrücklich Auskunft von einer der Schwestern im Schwesternzimmer. Die ziert sich zwar, doch am Ende sieht sie ein, dass sie diesen beiden Frauen nicht entkommen kann. Was will sie denn auch sagen?
„300 Miligramm“, resümiert Solveig. "Dabei nimmt sie wegen ihrer neuropathischen Erkrankung nur 150 am Tag. Dreimal 50.“ Sie ist blass vor Wut.
„Und das ist nur das, was sie ihr offiziell geben. Geh mal davon aus, dass sie ihr von dem, was im Plan steht, das doppelte geben. Dann hast du nämlich die erlaubte tägliche Höchstdosis für das Medikament erreicht. Und ich kenne das Zeug. Wenn ich akute Nervenschmerzen habe, nehme ich, nur um mich wegzuschießen, vielleicht 300 oder 350 mg. Das macht all das, was du an Talvi gerade siehst. Und das schon ohne die Beimengung von Oxy gegen Schmerzen.“
„Warum, will ich gar nicht wissen“, ätzt Solveig wütend. „Weil sie einen eigenen Willen und die Polizei gerufen hat.“
„Und weil die dachten, es käme keiner gucken, wie es ihr geht. Wir waren ja nicht da. Wir waren in Italien“, schließt Jana und grinst falsch in das junge Gesicht des Arztes, der sich gerade vorstellt. „Sie wollten mit mir reden?“, fängt er an.
„Ja“, herrscht Solveig. „Über den Zustand meiner Mutter. Über ihren Dämmerzustand, ihre Hilflosigkeit, ihr Lallen, aber vor allem über die Medikamentendosis.“
„Jetzt“, fügt Jana zu, „sind wir nämlich da.“
Sie waren dann da und nicht zu übersehen. Und vor allem nicht zu überhören, stellten sie Fragen. Die richtigen mit einem deutlichen Unterton.
Schon einen Tag später spricht Talvi in ganzen Sätzen.
Sie isst wieder, lacht, und hatte die Idee, die Physiotherapeutin zu bitten, sie im Rollstuhl vors Gebäude zu fahren. „Ich habe mir das nicht vorgestellt, dass ich mal im Schlafanzug vor der Uni-Klinik stehe, aber was soll ich dagegen machen.“
„Mama, es kommt darauf an, wie man da steht.“
„Es hat mächtig geglitzert.“
„Und wie behandeln sie dich“, fragt Solveig.
„Sagen wir es so, Mäuschen. Du darfst mir keine Revolver auf den Nachtschrank legen.“