Das ist alles ein einziges großes Missverständnis und wäre nicht entstanden, wenn man mal in Ruhe einen Kaffee miteinander trinken würde.
Dabei hat das Gespräch so gut angefangen, als sie gemeinsam aus dem Schulungsgebäude hinaus getreten, und Richtung Innenstadt gegangen waren.
Aber es ist nie Zeit. Alle sind immer so furchtbar in Eile.
Sally nicht. Sie lässt sich Zeit.
Unbeschreiblich fühlt sie sich in dem Gerenne.
Das ist ja auch ein geistiges Gerenne.
Nie denkt mal jemand was zu Ende. Alle fangen irgendwas an, wie dieses Gespräch hier, und wundern sich dann, wohin es führt, weil sie im Grunde nur mit Plattitüden abgespeist werden wollen. Am besten mit einer, die sie auch denken.
Aber Susi hat dieses verdammte Gespräch doch schließlich angefangen.
Als sie sie gefragt hatte, wie es ihr geht.
Womöglich war das doch nur die übliche Phrase gewesen, das könnte erklären, wie sie hier hergekommen sind, Sally weiß das nicht mehr so genau.
Denn immer ringt sie nach Worten, und hat doch das Gefühl, Farsi zu reden.
Weil so wenig von der Wirklichkeit und ihrer Vorstellungen davon in den Bereich der Sprache fällt, versucht sie es oft mit Beispielen und zieht auch schon mal gerne Bücher und Musik heran, von denen sie hofft, dass der andere beides nicht nur kennt, sondern sogar versteht.
Man muss ja nicht einer Meinung sein, aber verstehen wäre schön.
Da sie also kaum ein adäquates Wort dafür findet, um ihr Lebensgefühl zu beschreiben, bleibt ihr nichts anderes, weil sie hofft, in diesem Buch oder jenem Lied einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Sie irrt aber gewaltig.
Jetzt sind sie in einer überfüllten Fußgängerpassage, in der Massen von Menschen, mit überquellende Tüten in der einen Hand, dem Coffee to Go in der anderen, zu Konsumenten verschmelzen. Und Sally versucht dieses verdammte Gespräch am laufen zu halten.
Irgendwas war gründlich schief gelaufen, und sie weiß gar nicht mehr wann.
„Killing an arab?", spitzt Susi, "Was ist das denn für ein Lied? Das wird sich irgendeine rechtsradikale…“
„Nein“, Sally ringt nach Worten, gestikuliert vielleicht zu viel, „Die Band hatte 1978 niemals daran gedacht, dass es eine politische Diskussion darüber geben würde. Es geht um das Buch Der Fremde von Camus…“
„Also doch das Ausländerthema.“
„Nein!“, Sally weint fast vor Wut, „Vergiss den Araber. Platziere meinetwegen einen Marsianer an der Stelle. Das ist ja auch nicht der Fremde. Damit ist Mersault gemeint, der…“
„Ein Franzose?“
„Das spielt doch überhaupt keine Rolle.“
„Warte mal! Ich hol‘ mir nur mal eben nen Kaffee.“
Faden verloren.
Wo wieder anfangen?
Den ganzen Sermon von Neuem erklären?
Was ist das denn?
Sie reibt sich die Stirn.
Wann hat das angefangen, dass keiner mehr zuhört und nur das versteht, was er verstehen will?
Coffee to Go?
Meinung to Go?
Leben to Go?
„Guten Tag. Ich hätte gerne ein Lebenskonzept.“
Die Verkäuferin nimmt Maß und schwingt herum zum Regal, aus dem sie eines von vielen verschieden farbigen Büchlein nimmt. „Für sie wäre eine Ehe, ein Reihenendhaus, zwei Kinder und ein Hund genau das richtige.“
Sally verzieht den Mund gereizt. Kann das gar nicht so richtig glauben, wagt aber erst mal nur einen kleinen Widerspruch. „Ich hätte aber lieber eine Katze.“
„Katze? Die sind aber arg individuell.“
„Ja, das ist es, was ich…“
„Gut. Ich hätte da Perser, Siam oder…“
„Vergessen Sie die Katze! Was hätten Sie denn an Meinungen?“
Die dürre Person im Business-Kostüm stöckelt über den Parkettboden zu einem Kirschholzregal, nimmt ein Heft heraus und blättert wie wild.
„Also…“, die Seite rascheln, „Konservativ vielleicht?“ Sie blickt hoch und Sally direkt ins Gesicht. „Ich bin nicht sicher, vielleicht suchen Sie sie sich selber aus.“
Und schiebt das Büchlein rüber.
Sally blättert zuerst langsam, dann immer wilder hin und her. „Sie bieten aber nur radikale Meinungen“, verwirrt blinzelt sie, „Entweder schwarz oder weiß.“ Sie blickt auf. „Ich hätte aber gerne etwas in Hellgrau.“
„Die Hellgrautöne waren in den 80ern up to date. Heute muss man klar Stellung beziehen.“
„Das will ich doch“, Sally fühlt den Schweiß aus allen Poren ausbrechen, „Aber vorher will ich gerne alles wissen.“
"Das ist nicht sehr komfortabel."
„Das muss ja auch nicht sein. Ich…"
"Sehen Sie, die Grautöne sorgen nur für Verwirrung. In der Regel werden sie missverstanden und man wird Ihnen vorwerfen, keine Meinung zu haben. Wenn Sie sich hier in dem schwarzen Farben einrichten, dann…"
"Nein!", sie hebt die Hand, „Ich muss darüber nachdenken."
"Nachdenken gibt es nur in grau. In den Second-Hand-Läden können Sie gewiss…"
"Ich überlege mir das dann noch.“
„Wie sie wollen.“
Bedrückt schleicht Sally hinaus in die grelle Sonne und blinzelt gegen das Licht.
Wann hatte das angefangen?
Oder war das gar schon immer so gewesen?
Das hier, sie meint das Leben, ist doch alles nicht planbar.
Und schnell geht es sowieso nicht, und wenn doch schnell, verpasst man doch das Wichtigste.
Ja, sie biegt auch schon mal falsch ab und entdeckt einen Ort, an dem es lohnt, zu verweilen.
Eigentlich gut, dass die mit dem Plan daran vorbeirennen, denn sonst wäre er zu voll, der Ort, an dem sie sich selbst wiederfindet und eine Weile bei sich verharrt.
An dem es Kaffee in Tassen und gute Bücher gibt.