oder: Nur einmal mit Profis arbeiten.
Heute entgleisten mir die Gesichtszüge und das gleich mehrfach. Obschon das Bild irgendwie klemmt, weil es so klingt, als wäre das Antlitz mit Gleisen ausgestattet, auf denen diverse Züge verkehren, die gelegentlich entgleisen.
Egal – die Frage, ob einige Menschen noch im Post-Sylvester-Wachkoma liegen, stellte ich mir bereits gestern, als ich feststellte, dass ein von mir erhaltener monatlicher Betrag, der sich im September 23 erhöht hatte, versehentlich nur zu Zweidrittel geleistet wurde – also exakt die Summe, um die es vor der Erhöhung gegangen war plus einem Euro.
Letzterer ist vermutlich auf einen Schreibfehler zurückzuführen. Der Rest auf Nachlässigkeit, obwohl man das dem Verantwortlichen so nicht sagen darf, weil er derartig empfindlich ist, dass man ihm gelegentlich das Haupt tröstend tätscheln möchte.
Über Respektlosigkeit beklagt er sich am liebsten, ohne anderen Menschen Respekt entgegenzubringen, und ich bin sicher, dass er wirklich gerne die Größere der Art-Deco-Kommissar-Tischleuchten hätte, und nicht so eine kleine, wie sie in den meisten Büros steht.
Aber die ganz große Art-Deco-Leuchte steht tatsächlich bei mir im Büro.
Ich dachte, es wäre prima, wenn ich ihn freundlich, mit Samthandschuhen und in Schafswolle gewickelt, auf seinen Fehler hinweise.
Das sieht bei mir dann einfach nur sehr sachlich aus, ich bin schließlich nicht seine Therapeutin. Ich bat ihn, den Fehler zeitnah zu beheben, und mich zügig darüber zu informieren.
Vermutlich entgleisten seine Gesichtszüge, und wenn nicht derart viel räumliche Distanz zwischen uns läge, wären unsere entgleisten Züge im luftleeren Raum kollidiert.
Das war gestern.
Heute früh bis Mittag erhielt ich keinerlei Information. Ich hatte auch nicht ernstlich mit einer zügigen Nachricht gerechnet – vermutlich ist der Zug mit der Entschuldigung gleichwohl entgleist – weil ich schon bei der Verfassung der Mail wusste, dass er erst eine finden muss, die seinen Fauxpas verschleiert.
Übrigens lasse ich Mails, die ich an ihn schreibe, stets von einem Unbeteiligten gegenlesen, um sicherzugehen, dass sie gesüßt genug sind, aber nicht überzuckert, denn Letzteres kann als Ironie ausgelegt werden, die sie durchaus wäre.
Also keine Nachricht, jedoch eine Mahnung der Parfümerie Douglas über einen Betrag aus einer Rechnung vom 5.12, die ich am 12.12. beglichen habe.
Ich zücke das Telefon, höre mir endloses Warteschleifengedudel an, sage das übliche Identifikationssprüchlein auf und schildere den Sachverhalt.
„Wann haben Sie die Zahlung geleistet?“, werde ich gefragt.
Das sagte ich bereits. „Am 12.12.2023. Ich habe das eben beim Onlinebanking noch mal kontrolliert. Dem ist so. Die Bankverbindung ist auch korrekt.“
„Hm, vielleicht haben Sie einen Zahlendreher im Verwendungszweck.“
„Das habe ich nicht kontrolliert. Moment, ich schaue nach.“
Ich steuere das Büro mit der großen Kommisarlampe an, um dort auf dem PC nachzusehen. Unterwegs sage ich: „Aber selbst wenn, müssten Sie im Jahresabschluss 2023 eine Überzahlung von 50,58 Euro haben, die sie einer entsprechenden Lücke zuordnen können.“
„Nein, das geht nicht.“
„Natürlich geht das. Das nennt sich UZE. Ungeklärter Zahlungseingang, völlig normal in der Buch…“
„Nein, das würde dann einem anderen Konto zugeordnet werden.“
„So was machen Sie?“
Schweigen. Ich nehme an, der Dame entgleisten die Gesichtszüge. In diese Stille hinein lese ich den Verwendungszweck vor, den sie häppchenweise bestätigt. „Das verstehe ich nicht“, schließt sie. „Auf Ihrem Kundenkonto ist sogar eine Überzahlung.“
„Das müssen Sie mir erklären. Wie meine Zahlung und die Einzahlung einer anderen Person für deren eigene Rechnung zu einer Mahnung an mich führt.“
„Das verstehe ich auch nicht“, raunt sie.
„Bitte? Könnten Sie bitte lauter reden. Sie klingen wie Graf Zahl.“
„Ach so“, kichert sie. „Ich versteh es nicht.“
„Versuchen Sie, das in Ordnung zu bringen, ohne versehentlich ein Inkassounternehmen zu jemanden zu schicken, der seine Rechnungen immer bezahlt. Ihnen noch einen schönen Tag.“
Mit genervt gespannten Lippen checke ich meine Mails.
Keine Antwort vom Kollegen mit der kleinen Art-Deco-Lampe. Obwohl ich, wie gesagt, mit nichts anderem rechnete, pocht Wut an, die sehr gerne raus möchte. Antonella é presente– zischt sie. Deine italienischen Gene möchten gerne spielen. Dabei ist das nur ein Vorurteil. Ich bin temperamentvoll und ich kenne haufenweise bis zur Belanglosigkgeit entspannte Italiener.
Ich schüttele es ab, tobe es beim Sport aus und das trotz dieser wirklich bösen Nervenschmerzen im Femoralis. Dopmamin wirkt schmerzdistanzierend, denke ich und somit wieder an den Ärger – also checke ich erneut Mails und finde nichts.
Kurz überlege ich, anzurufen, aber ich will nicht.
Obwohl es lustig sein könnte, zuzuhören, wie er auf die Schnelle die Schuld jemandem anderen zuzuweisen versucht, täte mir das leid.
Obwohl es schon witzig ist, wie ihn meine ausgesprochene Freundlichkeit am Telefon verwirrt. Confuse the Management. Make a mess with Internen.
„Irritieren durch Höflichkeit“ – das klingt nach einem weiseren Lebensratgeber als „Entspannen durch Tannen.“
Am Nachmittag entdecke ich in der Post ein Päckchen von Momox und weiß, dass darin das Buch ist, das sie nicht hatten aufkaufen wollen, weil es mit einem Blutfleck auf dem Buchdeckel verschmutzt wäre.
Als das Buch meinen Haushalt verlassen hat, war es lupenrein, und nur deshalb habe ich es mir, trotz der Kosten von 4 Euro, zurückschicken lassen: um es notfalls kriminaltechnisch dahingehend untersuchen zu lassen, ob mit diesem kleinformatigen Taschenbuch auf dem Postweg nach Berlin jemand erschlagen wurde. Ich werfe meine Jacke auf den Esstisch, setze mich daran und packe das Buch aus.
Großartig umdrehen muss ich es nicht, die Blutflecken auf dem Cover des Thrillers „No Escape“ von Lucy Clarke sind graphisch. Sie sind Teil des Covers. Das gehört so.
Resigniert sinke ich mit dem Kopf auf die Tischplatte.
Kurz erwäge ich, den Kollegen anzurufen, um ihm zuzuhören, wie er entgleist, auf der Suche nach irgendjemanden, der Schuld am Fehler sein könnte, nur eben er nicht, verwerfe den Gedanken aber, weil es grausam wäre.
Außerdem müsste ich von einem fremden Telefon aus anrufen, weil er bei Sichtung meiner Nummer schon nicht mehr rangeht, obwohl ich immer so höflich bin.
Ich finde nur immer einen Grund zum anrufen. Ich will sie nicht finden, ich wünschte, es gäbe sie nicht. Da ich keine Lust habe, nach Pulheim zu fahren, um von einem anderen Haushalt aus anzurufen, lasse ich es einfach.
Stattdessen zaubere ich mir einen Kaffee und schreibe an Momox, nicht ohne das Buchcover bei Medimops zu verlinken. Wenn es technisch möglich gewesen wäre, hätte ich dort die graphischen Blutflecken mit Textmarker eingekringelt.
Danach?
Zurückgelehnt rauche ich meine Zigarette, denke, dass ich seine ihm zuarbeitende Kollegin anrufen könnte, die immer, wenn ich eine Frage habe, sagt: „Ich mache nur die Zahlungsanordnungen.“
Womit sie vorauseilend alle Schuld, die ich ihr potenziell für irgendetwas anlasten wollen könnte, von sich weist.
Das sagt sie schon, bevor sie weiß, was ich möchte. Ich könnte anrufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren- ich mache nur die Zahlunsganordnungen – würde das Erste sein, was ich höre.
„Ja, eben“, könnte ich sagen. „Es geht um eine vermurkste Zahlungsanordnung.“
Ich drücke die Zigarette aus, und habe seine Schuldige gefunden.
Aber da wird er wohl selbst draufkommen.
E cosi.