18: 05 bis 18:49 Uhr
"Ich habe da überhaupt keine Lust mehr, hinzugehen", trotzdem schlüpft sie in ihre Jacke, greift nach der Tasche mit Buch und Heft, "die Frau geht mir auf die Nerven. Sie ist vollkommen ungeeignet, Migranten zu unterrichten."
"Du musst ja nicht hin", seine Augen schweifen über den Dielenschrank, und ja, da ist er, der Autoschlüssel.
Er ist auf dem Weg zur Arbeit, die sie beide für fünf Jahre nach Dänemark geführt hat, von vornhinein temporär, der Aufenthalt. Eine Versetzung, kein Neuanfang, was sie signifikant von den anderen Schülern der Sprachschule unterscheide. Und weil sie keine Migranten sind, muss sie da nicht hin, was ein Privileg ist, aber dort neben der Frau seines Kollegen sitzend, lernen sie die Sprache zwischen all den Menschen, die müssen.
Weil die herkamen, um Freiheit zu finden, Sicherheit.
Glück.
Zukunft.
Einen Neustart ins Leben.
Sie kann auch einsehen, wie wichtig die Sprache zur Erreichung dieses Ziels ist.
Fühlt sich aber oft deplatziert.
Sie hat kein Schicksal, das es zu verarbeiten gilt.
Sie kommt sich zu glücklich vor, in dieser Gruppe.
Und dann ist da Ulla.
Hier spricht man das Ullä
Deswegen sagt Ullä, die Lehrerin, auch Christiäne zu ihr.
Das geht ihr auf die Nerven.
Die Frau des Kollegen hat Glück, sie hat einen nordischen Namen und wird nicht bescheuert ausgesprochen.
Vor der Tür stehend verabschiedet er sie mit einem Kuss und einem Lächeln, entschwindet winkend in sein Auto, derweil sie ihres unmotiviert ansteuert und die ganze Zeit überlegt, wie sie Dänisch lernen kann, ohne sich täglich über Ullä zu ärgern, die weder die Migranten, noch sie, die Frauen mit Diplomatenstatus mag.
Die Frauen, die nicht hin müssen, weil sie wieder gehen werden.
Und Privilegien haben, die Ullä den Migranten aus Somalia, dem Senegal und auch Litauen und Marokko permanent unter die Nase reibt, damit ja Neid geschürt wird, den sie, Ullä, wahrscheinlich nur selbst nadelspitz fühlt, weil sie auch gerne steuerfrei Alkohol kaufen möchte.
Zum Beispiel.
Aber gut, sie fährt hin.
Auch, weil sie sich mit der Frau des Kollegen ihres Mannes angefreundet hat.
Unter bleischwerem Himmel erreicht sie das Sprachzentrum in der Mitte Viborgs.
Bleischwer war auch das Wochenende gewesen. Mit dem Wetter hat sie immer noch Probleme, bezweifelt auch, sich je daran gewöhnen zu können, aber sie kann ja steuerfrei Alkohol kaufen, denkt sie, und lacht, weil das natürlich keine Alternative ist.
Aber immerhin steigt die Laune. Sie will ja Dänisch lernen.
Obwohl sie nicht muss.
Aber sie will mit ihren Nachbarn reden, ins Theater gehen.
Im Trubel vielfältiger Sprachen schließlich, stühlerückend, Begrüßungen rufend, im Lachen hie und da, sinkt sich Stille herab, als Ullä mit gewichtiger Miene und herablassendem Blick eintritt, die Vielzahl ihrer Schüler scannt und sich mit hochgereckter Nase an ihr Pult setzt.
Sie fühlt, wie ihr Kirsten unter dem Tisch einen Tritt gegen das Bein verpasst, muss glucksen, was sie mühsam zurückhält.
Sie kommt sich vor wie Vierzehn.
Nicht wie Dreißig.
Weil das wirklich lustig ist, lohnt sich der Besuch vielleicht schon deshalb, aber sie kann nicht aufhören, sich darüber zu ärgern, wie Ulläs giftige Augen über diese hilfesuchenden, hoffnungfrohen Menschen schweifen, im Blick all das, was sie über jeden einzelnen von ihnen denkt.
Es geht los, und weil Montag ist, müssen sie erzählen, was sie am Wochenende gemacht haben.
Was wohl, denkt sie, das Kinn auf die Hand gestützt, was kann man an einem Novemberwochenende in Dänemark, fern vom Meer und Hundert Kilometer entfernt von einer Stadt, die den Namen Großstadt verdient hat, schon machen?
Wissend, was die Dänen machen, hält sie den Alkohol immer noch nicht für eine Alternative, obwohl er natürlich steuerfrei ist, was Ullä auch wieder hinausposaunen wird, was den Muslimen natürlich völlig wurscht sein dürfte, aber nicht mal das scheint Ullä zu wissen.
Wahrscheinlich ärgert sie sich, weil sie das Wochenende wieder so viel Geld gekostet hat , denkt sie ketzerisch, hört nur mit halbem Ohr zu, wie Günes für ihren Hidschab gemaßregelt wird.
Obwohl das sehr hübsch aussieht.
Sie trägt so eine Art Minihütchen oder so darunter, was den Hidschab wie ein modisches Accesoires aussehen lässt und vielleicht ist er das ja auch.
Na, und, möchte sie schreien, ich habe eben auch noch eine Kopfbedeckung getragen, die nicht halb so hübsch ist wie der Hidschab, weil es Bindfäden regnet. Da liegt sie noch, auf der Garderobe! Eine MÜTZE!
"Christiäne", Ullä klingt verschnupft, weil sie nicht sofort reagiert hat.
Versäumt hat sie, dass sie an der Reihe ist, räuspert sich, erklärt, dass sie gelesen hat, am Wochenende.
"Hvad?" Mit zusammnegepressten Lippen und zur Seite geneigtem Kopf wartet Ullä wieder auf eine Antwort, die sie mit scharfkantigen Bemerkungen traktieren kann.
Irgendetwas müssen diese Deutschen doch auch falsch machen. Irgendetwas!
"Pesten, fra Camus."
Zorn schleicht sich in Ulläs Gesicht. Sie hatte gelesen! Einen Franzosen! Ein eklatanter Fehler!
"Hvovor ikke Kierkegaard?" Ulläs kleine Äuglein mustern sie lauernd.
Ja, warum nicht Kierkegaard, denkt sie.
Weil Camus ohne Kierkegaard nicht möglich wäre. Weil es zwischen Kierkegaard und Camus noch Nietzsche gibt. Weil sich alles gegenseitig bedingt und nichts für sich alleine steht, und euer einziger dämlicher, verzeihung, dänischer Philosoph nicht der Einzige auf dieser Welt ist, verdammte Axt!
Nichts steht für sich alleine!
Nichts ist besser als das andere!
Aber das sagt sie nicht, weil sie ein friedliebender Mensch ist, froh, nicht Nietzsche gelesen zu haben, weil ihr dann wieder angelastet worden wäre, ein Nazi zu sein.
Sie gibt eine verbindliche Wischiwaschi-Antwort, gespielt schuldbewusst mit den langen Wimpern klimpernd, derweil Kirsten neben ihr kichert, weil das alles so absurd ist, was Camus gewusst hätte, deshalb musste sie ihn ja auch lesen, am verregneten Wochenende, in der Dunkelheit des Tages , weil das hier wirklich kein Wetter ist und es nie hell wird und es so kalt ist und er schrieb......
..........in der Tiefe des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.
".......Josef?"
Verblüfft folgt sie Ulläs kleinen Augen, die sich verbiestert in den jungen Nordafrikaner gebohrt haben, der sichtbar noch nach Worten ringt, um zu erklären, warum er was auch immer falsch gemacht hat.
Sie hatte es nicht verstanden, weil sie noch immer in ihrem Ärger gefangen ist, der jetzt keimt, der jetzt wächst, der heiß wird.
"Der Mann heit Yussuf", sagt sie mit funkelndem Blick.
Auf Deutsch.
Jeder Däne spricht Deutsch und sie ist so wütend, dass sie nicht mehr Dänisch reden will.
Ullä, die Augen zu kleinen bösen Schlitzen verengt, mustert sie eindringlich. "Hvad siger du?"
"Sie haben mich genau verstanden. Der Mann heißt Yussuf. Nicht Josef."
Ullä öffnet ihre vormals zu einem Strich zusammengepressten Lippen. "Han er her i denmark", spuckt sie aus.
"Ja, klar ist er hier in Dänemark. Aber deswegen müssen Sie ihm nicht seine Identität stehlen."
"Han er nødt til at tilpasse....", Ullä springt aller Hass auf sie aus den Augen. Hass, tatsächlich, das offenbart sich jetzt.
Echter Hass.
Ohnehin eine Misanthropin, hat das nicht nur mit ihrer, Christiänes, tysker Identität zu tun.
Wahrscheinlich liegt das nur am steuerfreien Alkohol, denkt sie und holt noch mal aus, indem sie dazwischen fährt: "Natürlich muss er sich anpassen. Tun wir doch alle. Wir können gerne darüber diskutieren, wieviel von uns wir aufgeben müssen. Und wahrscheinlich hat Euer einziger Philosoph dazu irgendetwas zu sagen. Aber er heißt Yussuf!"
Inzwischen, Yussuf ist in sich zusammengesunken, so weit hinabgeglitten im Stuhl, dass sein Kinn mit der Tischkante gleichauf ist, packt sie ihre Sachen zusammen.
Hier muss sie nicht bleiben.
Hier nicht.
"Nicht Josef", mit zackigen Bewegungen räumt sie die Bücher in ihre Tasche, "Nennen Sie ihn doch gleich Sören."
Der Reißverschluss ihrer Tasche schleift.
Sie springt auf.
"Vielleicht versuchen Sie auch, solange mit Kernseife auf ihm herumzuschrubben, bis er nicht mehr kaffeebraun ist."
Ihr Stuhl kippelt, so schnell springt sie auf.
In der Tür schwingt sie herum. "Auf wiedersehen UllA. Christiäääääne ist jetzt weg. Und kommt nicht mehr wieder!"
Die Tür knallt sie. Mit der Wucht der Wut steuert sie ihr steuerfreies Fahrzeug an, wirft sich in den Fahrersitz und muss erst mal eine steuerfreie Zigarette rauchen.
Im Herunterkühlen erkennt sie, wie gut diese Entscheidung war.
Sie kann so was sagen.
Sie ist priviligiert.
Die anderen dürfen das nur denken.
Wenn sie sich den Neuanfang nicht vermasseln wollen.
Aber es musste raus. Es musste einfach raus.
Sie startet den Wagen, den steuerfreien, und natürlich muss sie die Scheibenwischer anmachen.
Im Klacken des Blinkers denkt sie, sie wird noch einmal wiederkommen.
Noch einmal.
Auch, um ihre Kopfbedeckung zu holen, der Regen läuft in Schlieren ihr Gesicht hinab.
Andertags kommt sie mit einem Geschenk für Ullä, als Dankeschön.
Ironisch, mit gehobener Braue und mokantem Lächeln, überreicht sie eine Flasche Absolut Vodka, steuerfrei, mit steuerfreiem Schleifchen.
"At sødte aftenen for dig", sie zwinkert und verlässt den Raum.
Kommt nicht zurück.
Dänisch lernt sie trotzdem.