Nur mal angenommen, Horoskope träfen zu.
Dann wären gestern weltweit Menschen unterwegs gewesen, um Waagefrauen zu besuchen. Was für ein Verkehr, unabhängig von der Frage, ob die betreffende Frau das wollen würde.
Erschöpft von der langen Anreise wuchtet Antonella den Koffer auf das Kofferbänkchen unter der Garderobe. Ihr Blick huscht zum Bett, am Fußende ein aus Handtüchern gefalteter Schwan, der ihr ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Ohne sich zu Bücken streift sie die Schuhe ab und lässt sich aufs Bett fallen.
Sie schließt die Augen – endlich allein.
Als sie erfahren hat, dass Sebastian über Weihnachten dienstlich nach Wiesbaden reisen würde, war sie einen Moment irritiert gewesen, weil sie sich auf die Feiertage mit ihm gefreut hat. Aber es war nicht zu ändern, und da sie selbst Polizistin ist, wäre es albern gewesen, ihm Vorwürfe für etwas zu machen, das er nicht beeinflussen konnte.
Sie macht die Augen wieder auf, blinzelt in die Sonne, die warm durchs Fenster scheint, so verschleiert, wie kalt es draußen ist. Hier, vom Bett aus, ist die Aussicht auf die Berge, die Meran umschließen, zauberhaft.
Ich werde lesen, nimmt sie sich vor.
Auf dem Balkon meines Zimmers, dick in Wolldecken eingemummelt, einen dampfenden heißen Kakao mit Rum auf dem Tischchen einfach nur lesen.
Jemanden anderes zu Weihnachten hätte sie nicht ertragen wollen. Nach diesem extrem anstrengenden Jahr wäre ein Mitglied ihrer Familie…
Ihr Kopf ruckt hoch. Hatte es da geklopft?
Das Hämmern an der Tür wiederholt sich. Sie zieht die Brauen zusammen. „Ja?“
„Überraschung“, dröhnt es dumpf. Auf Anhieb ist die Stimme nicht zu erkennen, aber sie umschleicht eine Ahnung, die das Lächeln in ihrem Gesicht auslöscht. Mit gespanntem Mund schraubt sie sich hoch, steht auf und läuft zur Tür, die sie aufreißt. Vor der Tür, Überraschung, steht ihr Bruder, wie immer im feinsten Zwirn, nur dieses Mal mit einem Turm Weihnachtsgeschenken im Arm.
„Mann, Lorenzo!“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Er schiebt sich an ihr vorbei ins Zimmer. „Es hatte etwas länger gedauert. Auf den Straßen ist die Hölle los. Keine Ahnung, warum.“
„Wahrscheinlich, weil in Trient massenweise Waagefrauen wohnen“, ätzt sie.
Er legt die weihnachtlich verpackten und mit Schleifen übersäten Pakete auf dem Bett ab. „Wie?“
„Das steht in meinem Horoskop! Dass ich heute überraschend Besuch bekomme!“
Szenenwechsel:
An Deck des Forschungsschiffs Armageddon II späht Sylvia mit dem Feldstecher in die Arktis. Sie hat sich längst daran gewöhnt, in diesen dicken Jacken wie ein Michelinmännchen auszusehen, und hier treibt sich auch niemand herum, der sie so sehen könnte. Normalerweise ist ihr das auch egal, wäre da nicht Jens, den sie bei ihrem letzten Landgang in Hamerfest kennengelernt hätte. Wenn Beziehungen noch frisch sind – ah, sie will einfach einen guten Eindruck machen. Mit einem vagen Lächeln nimmt sie das Fernglas runter. Weil ihr die Wangen von der Kälte spannen, zieht sie die Mütze tiefer und in diesem Augenblick hört sie ihn.
Den Hubschrauber.
Irritiert sieht sie sich um, entdeckt das bereits gelandete Teil auf dem Hubschrauberlandeplatz an Bord der Armageddon. Die Rotorblätter drehen immer langsamer, der Motorenlärm erstirbt.
Übers Deck hetzt Pedro der Kartograph und strahlt sie breit an. „Sylvie!“, ruft er. „Da ist überraschend Besuch für dich!“ Aufgeregt gestikuliert er zum Hubschrauber. „Er sagt, er heißt Jens!“
„Was?“ Sie nimmt die Mütze ab. Versucht, das elektrostatisch aufgeladene Haar an den Kopf zu pressen. „Da nimmt er einen Hub… äh.“
Sie blinzelt, läuft Pedro aber brav nach bis zur Landeplattform. Zwischen drei ihr völlig fremden Männern, die in Daunenjacken, Schal, Handschuhen und winterfestem Schuhwerk beisammenstehen und sich neugierig umschauen, entdeckt sie Jens, die Arme voller Weihnachtspäckchen.
„Die sind nicht alle für dich“, entschuldigt er sich grinsend. „Matt, Søren und John wollten mit, um ihre Frauen zu besuchen.“
„Was?“ Sylvie knetet die Mütze in Händen. Die Haut ihrer Fingerknöchel ist schon ganz rot. „Die anderen haben auch alle Oktober Geburtstag?“
Die NASA hat überraschend ein weiteres Space-Shuttle in den Weltraum gesandt – die leitende Ingenieurin bekommt überraschend Besuch.
Mehrere Einbäume pflügen sich durch den Pazifik.
Sieben Yachtbesitzer streiten sich um die letzten beiden Anlegeplätze auf Ponza.
Auf der A 7 staut sich der Verkehr seit Stunden aus unerklärlichen Gründen.
Tiane A. aus R, die dabei ist, nicht nur ein Weihnachtsessen für den heutigen Tag, sondern auch die Vorsuppe für die morgigenTag zu bereiten, schaut irritiert auf, als es klingelt.
Im Haus nebenan klingelt es auch.
Zudem signalisiert ihr Handy eine Nachricht, die sie flüchtig liest. Stell dir vor! Überraschend ist Marcus aufgetaucht!
Das liegt am Horoskop, schreibt sie flott zurück. Sie nimmt das Geschirrtuch von der Schulter und öffnet die Tür.