Ich erinnere mich, meinem Mann vor mehr als zehn Jahren eine Armbanduhr zum Geburtstag geschenkt zu haben.
Sie ruht in ihrem Kästchen, denn ich erinnere mich nicht, dass er sie je getragen hätte.
Nicht, dass er überhaupt je eine Uhr getragen hätte oder sie je tragen würde.
"Wenn ich wissen will, wie spät es ist, muss ich nur über die Schulter gucken. Hier hängen überall Uhren herum."
Genau.
Die Welt ist voller Uhren, die uns ständig gemahnen. Die uns stetig unter Druck setzen, denn die Zeit fließt nicht, sie rennt und wir sprinten atemlos hinterher, im Wissen, dass alles endlich ist.
Er nicht. Er schlendert den Terminen und Verpflichtungen gemächlich entgegen, zu denen er immer pünktlich erscheint. Ich frage mich schon nicht mehr, wie er das macht. Es ist mir nicht nur zur Gewohnheit geworden, es erdet mich.
Das Leben an der Seite eines uhrlos tief entspannten Menschen erscheint, aus der Ferne betrachtet, fast wie eine Therapie für jemanden wie mich, die ihr Lebtag lang immer das Gefühl hatte, für alles zu wenig Zeit zu haben.
Ja, ich bin ein wenig hektisch, und ich habe auch eine Armbanduhr, auf die ich ständig einen flüchtigen Blick werfe, um zu gucken, ob die Zeit noch reicht, um XYZ zu machen.
Was denn? Was zu machen?
Das Leben, verdammt. Es geht nicht nur um die Frage, ob ich nach der Arbeit und dem Termin zum Hautscreening pünktlich zu einer Verabredung in Düsseldorf komme.
Es geht nicht darum, zwischen der Arbeit und dem Termin um 17 Uhr noch einen Friseurbesuch zu schieben, und dabei zu überlegen, ob das überhaupt geht, weil die Haare wegen des Ansatzes gefärbt werden müssen, und das dauert… wie lange? Ein Blick auf die Uhr. Hm, wenn keiner trödelt, müsste das zu schaffen sein.
Aber sie trödeln. Irgendwas ist immer, und deshalb wird es knapp.
Die Zeit ist generell knapp. Die Zeit, die ich zur Verfügung habe, ist knapp bemessen, und ich weiß nicht, wann sie endet.
Sie erdrückt mich, die Zeit.
Vergessen kann ich sie nie, und mitunter ist sie grausam, so wie letzte Woche, als ich meine Freundin in das Pflegeheim begleitete, in das sie ihre Mutter verbringen musste.
Ein Pflegeheim. Sie stehen überall herum, sind oft hübsch anzusehen, und manchmal zynisch - anders als zynisch kann ich es nicht nennen, wenn das Restaurant zum Altenheim auf unserer Hauptstraße Vier Jahreszeiten heißt.
Vier Jahreszeiten.
Das Lokal in einem Pflegeheim müsste Herbst heißen. Oder Herbst Winter, doch nicht Vier Jahreszeit. Der Name ist der personifizierte Hohn.
Auf dem Weg zur Arbeit entdeckte ich, an der Ampel stehend, die Werbung für ein Sommerfest in der Residenz Pension Greisenglück.
Ich erinnere mich, mich endlos aufgeregt zu haben, über diesen Namen, ohne je zuvor in einem Pflegeheim gewesen zu sein.
Nun war ich mal drin.
Es ist entsetzlich. Grausam, mitanzusehen, wie ein Menschenleben endet, ohne gestorben zu sein. Der Geruch, das Lachen, das Weinen, die faden Gänge, die, krampfhaft um Frohsinn bemüht, behängt mit bunten Bildern und Plastikblumen daher kommen.
Ich habe es meiner Mutter erzählt, die sich im Frühwinter des Lebens befindet, was gleichbedeutend mit der Tatsache ist, dass um sie herum Menschen ihres Alters sterben.
"Dass manche Leute nicht einfach tot umfallen können", schimpfte sie. "Man kann nur hoffen, dass es einem selbst erspart bleibt."
Ich weinte.
Dachte an sie, aber auch an mich - wie wird das alles enden?
In einer endlosen Quälerei, in der kaum zu ermessen ist, wie viel Uhr es ist, weil es keine Rolle mehr spielt?
Keine Ahnung. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Uhr und renne los, dem Leben entgegen. Der Zeit hinterher.