Vorgestern dachte Jana, sie wäre durch ein klaffendes Loch in der Realitätsschiene in eine andere Wirklichkeitsebene gefallen, weil sich um sie herum alle so absurd benahmen.
Gut, absurdes Verhalten ist sie gewöhnt, in erster Linie von anderen und der Welt im Allgemeinen. Übrigens ist das ja auch immer eine Frage der Anschauung. Wenn der Riss zwischen einem selbst und der zärtlich gleichgültigen Welt besonders groß ist, erscheint das Absurde gewaltiger. Menschen ohne Riss bemerken es gar nicht.
Aber dieses Mal war es besonders absurd.
Das war doch unmöglich ihre Realität.
Als sich ihr Mannn Tim mit seiner Schwester Sabine in München aufhielt, und sich Jana am Tag von deren Rückreise mit besonders starken gesundheitlichen Problemen in Form von Nervenschmerzen quälte, und sich nur deswegen nicht medikamentös wegschoss, weil sie ihren Liebsten nicht halb komatös in Empfang nehmen wollte, wunderte sie sich nicht wenig, dass dessen Mutter X mal anrief, um zu erfragen, ob er bereits zurück wäre.
Schon beim zweiten Anruf dachte sie ???
Beim Dritten war sie geneigt, zu erklären, dass sie Anfang 50 wären und nicht zwölf.
Anderntags versuchte sie es, Linda zu erzählen, die die Absurdität des ganzen nicht gleich erfasste.
Zu diesem Zeitpunkt waren Tim und Sabine jeder in seinem Zuhause, und hatten selbst einen Einlauf bekommen, der mit beleidigtem Unterbrechen des Telefongesprächs endete.
„Vielleicht solltet ihr, wenn ihr weg seid, einen Seniorenhilfedienst beauftragen, der für sie alles erledigt“, schlug Linda vor.
„Nein, darum geht es nicht.“ Jana reibt sich das schmerzende Bein. „Die haben so was. Und sie brauchen keine Hilfe darüber hinaus.“
„Dann verstehe ich aber nicht, was das Problem war.“
Jana muss heftig lachen. „Dachte ich mir. Wir verstehen es ja selbst nicht. Die Kinder waren noch nicht zuhause, als es dunkel war.“
„Was?“ Linda blinzelt verblüfft.
„Ja, so war das. Ich musste mir am Telefon anhören, dass sie nicht mehr die jüngsten wären, und dass es schon dunkel wäre, und solches Zeugs eben.“
„Ist das…?“ Linda schüttelt verdutzt den Kopf. „Das gibt es ja nicht.“
„Doch, doch. Ich hatte solche Schmerzen. Das macht mich ja so dünnhäutig, und dann musste ich immer lächeln, beschwichtigen, beruhigen. Ab dem dritten Anruf verkroch ich mich auf dem Sofa unter der Decke und dachte nur: Ich muss hier weg.“
Linda guckt immer noch fassungslos. „Was soll man da machen?“
„Ich weiß es nicht.“ Jana leert ihr Wasserglas. „Zumal grad auch extremer Unfrieden herrscht.“
Das war gestern.
Frieden ist noch keiner eingekehrt. Weder Tim noch sie haben große Lust, sich am Telefon erneut anblaffen zu lassen. Sie sind Anfang 50, capisce.
Außerdem macht sie der Dauerschmerz verletzlich und kuschelbedürftig. Die Nervenschmerzen hören nicht auf, und erfahrungsgemäß weiß sie, dass es an der von den Gewittern elektrostatisch geladenen Luft liegt. Es ist schwer, keine depressiven Episoden zu erleiden, wenn man statt Sport zu machen auf dem Sofa herumhängt, weil die Medikamente, die sie, als Tim zuhause war, dann doch noch genommen hat, hoch dosiert waren.
Jetzt sitzt sie in der Küche, mitten in der Nacht um halb drei, die Schmerzen so schlimm, dass sie die Wände hochgehen könnte, und morgen – sie schaut auf die Uhr- nein heute- wollten sie doch in die Oper.
Sie wird in die Oper gehen.
Nie hat sie sich davon ausbremsen lassen.
Aber zuvor hatte sie schwimmen wollen.
Sie schaut an sich hinab. Das Bäuchlein. Wieder drei Tage ohne Sport. Drei Tage herumliegen, dösen, leiden…
An ihrem Esstisch sitzend schreibt sie an Linda.
Ich will hier weg.
Ich halte es hier nicht mehr aus.
Das Klima macht mich krank.
Und du weißt doch, dass wir aus reinem Verantwortungsgefühl für die Alten noch hier sind. Nur deshalb.
Um uns anschnauzen zu lassen, weil wir es wagen, nicht vor 22 Uhr, im hellen Zuhause zu sein.
Deshalb sind wir hier.
Jana überlegt, es sie wissen zu lassen. Vielleicht sind sie dann dankbarer.
Sie hat die Terrassentür geöffnet, um den Bachlauf zu hören, der sie beruhigt.
Da, wo sie jetzt wohnen würden, wenn es ihnen egal wäre, was mit den Alten ist, würden sie nicht angefahren werden, wenn Tim mit wem auch immer von San Felice einen Ausflug nach Neapel machen würde.
Weil es keiner wüsste.
Kurz kichert sie halb verzweifelt, weil sie sich deren Entsetzen ausmalt. Am Telefon.
Sie in ihrer Küche in San Felice. „Tim sprechen? Nein, der ist mit Gianluca drei Tage in Neapel und kommt erst morgen zurück.“
„Was? Nein! Aber da ist es gefährlich! Hast du keine Angst, dass sie erschossen oder überfallen werden! Kommen sie denn im Hellen zurück? Sind sie vor 22 Uhr im Bett!“
Aber eigentlich ist ihr nicht nach Kichern. Der Phantomschmerz hat sie erschossen. Seine Attacken alle 10 Minuten grell, spitz, scharf, durch den ganzen Beinstumpf.
Klar tut das auch schon mal im Süden weh.
Durchwachte Nächte auch dort.
In zwei Jahrzehnten so einige.
Aber statt des Bachlaufs sind da die Zikaden und statt der Lichtverschmutzung der Himmel über dem Meer.
Was ihr hier nie gelingt, ist ihr dort ein Leichtes: Die Nacht, der Schmerz, die Schönheit des Seins.
Die Symbiose zwischen ihr, dem Schmerz und dem Glück.
Der Riss zwischen ihr und der Welt existiert dort nicht. Im Gesang der Zikaden, deren Lied, deren Geschichten geht sie ein Erdulden ein, das dem Wissen entspringt, dass es vorbeiziehen wird.
Sie lässt den Schmerz durch sich hindurch und vorüberziehen, gleich, wie lange er dauert, weil sie existiert, mit der Welt. Mit der Luft, deren Salzgehalt sie schmeckt.
Das Meer, so nah und zuverlässig, weil immer vorhanden, eine Größe die tröstliche Gleichförmigkeit verspricht.
Ich bin, egal, ob du leidest.
Ich war vor dir hier.
Wie ich sein werde, wenn du Teil der Erde geworden bist.
Die Wellen streichen über den Sand, wie der Schmerz dich anfällt, ziehen sich zurück, wie er, kommen wieder, weil es das Leben ist.
Und Jana darin. Stets sieht sich als Stehende auf einem vom Wasser glatt geschliffenen Felsen, die Arme in den Himmel gereckt weit ausgebreitet. Und ihr Ruf in die Welt: Hier bin ich! Ich bin Teil von allem und ich liebe dich, die Erde! Den buckligen Boden Kalabriens, die süßen fruchtbaren Auen Campaniens, den Vesuv, die Berge im Wasser, die Geschichte, die der Boden atmet, und jeder Stein Roms, die verhöhnende Wölfin - Aber vor allem die Menschen schlechthin. Menschen grundsätzlich. Überall. Wisst ihr das eigentlich?
Hier nur der Bachlauf.
Und die Frage, warum ihr diese allumfassende Liebe stets mit Angriffen vergolten wird. Sinnlosen obendrein. Nicht nur in dieser Lage - Angriffe kommen von Menschen generell jedesmal unvermittelt und unerklärlich ob ihrer Sinnlosigkeit.
Mittlerweile weißt du, dass es nicht oft an dir liegt.
Inzwischen weißt du, dass sinnlose Attacken aus der Unzufriedenheit, Unglück, Angst oder sogar Größenwahn der Provokateuren entsteht.
Und die Katze, die eine lebende Maus heimbrachte, die gerade im Wohnzimmer gejagt wird.
Und die Lichtverschmutzung. Aber vor allem die Kälte.
Und das alles nur, weil sie hier herumlungern müssen, um sich wie Kleinkinder anschnauzen zu lassen?
Wirklich?
Sie wird mit Tim reden müssen, glaubt zwar nicht, dass sie infolgedessen endlich nach Italien ziehen werden, aber vielleicht wird seinen Eltern dann bewusst, dass es auf Messers Schneide steht.
Wir sind nämlich nur euretwegen hier.
Euretwegen und meiner Eltern wegen.
Es wäre also anständig, uns nicht zu behandeln, als wären wir Kinder.
Es wäre sinnvoll, uns nicht zu vergällen, indem ihr überflüssigen Zoff wegen nichts vom Zaun brecht, denn wir könnten die Schnauze voll haben und gehen.
Jana merkt, wie wütend sie wird. Sie provozieren.
Merken sie das überhaupt?
Was für einen Schaden ein solcher Unsinn anrichtet?
Sie steckt wieder den Kopf unter die Decke und wimmert: „Ich will hier weg. Ich halte es hier nicht mehr aus.“
Ihr Kopf ruckt hoch. Sie könnte sich einen Joint drehen. Normalerweise hilft das nur gegen mittelschwere Schmerzen, aber sie hat es lange nicht mehr gemacht. Der Überhang davon wäre nicht so schwer wie der von den Tabletten und den Tropfen. Vielleicht wäre Schwimmen dann vor der Oper doch noch drin.
Zuletzt hat sie das gemacht, als sie die Influenza gehabt hatte, weil der Infekt die Schmerzen ins mehr als Unerträglich gezogen hatte. Sondern ins Vernichtende.
Sie hat in Absprache mit ihrem Neurologen eine Reihe Dinge gemixt, zu denen sie sich ohne den nicht getraut hätte. Der Mann ist ein Heiliger für sie – der erste in 27 Jahren, der die Sache mit den wiederkehrenden Schmerzen zwar nicht in den Griff bekommen hat – das ist mit absolut nichts in den Griff zu bekommen – sie aber ernst nimmt. Und Medikamenten-Kombis mit ihr, im Akutfall, durchgespielt hat.
Das, was ihr bis dahin widerfahren war, bei unzähligen Neurologen, die sie verschlissen hat, nennt er Second Hit.
Das wäre ein Fachbegriff, das Phänomen ist bekannt und wirft kein gutes Licht auf Ärzte.
Es heißt, dass das Trauma, der Unfall, der erste Schlag /Hit war und die Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden, das zweite Trauma verursacht. Den Second Hit.
Trauma, lachte sie innerlich. Ich habe so viele Traumata und kann mich nicht erinnern, dass ich die meisten von ihnen je als solche wahrgenommen hätte.
Das Trauma des Unfalls.
Das, des Gefühls schuldig am Trauma anderer zu sein, die sie liebten. Wie Eltern zum Beispiel.
Das Trauma, bei Ärzten nicht ernst genommen zu werden.
Das Trauma, nicht fortziehen zu können. Das Trauma, nicht dort zu leben, wo das Herz und die Seele verweilen. Nur ihr Körper kann nicht mit.
Also Gras jetzt.
Vielleicht lacht sie dann drüber. Aber eigentlich will sie nur schlafen.
Eine Stunde danach, es ist vier Uhr, liegt sie im Bett und kreiselt ein wenig. Gering dosiert, aber sie hatte es lange nicht mehr gemacht. Sie denkt:
Wir sind nur euretwegen noch hier.
Hört auf, euch so absurd zu benehmen.