Im Dunkeln düsen sie aus Lucca raus über die Autobahn gen Südosten.
Sie weiß gar nicht mehr genau, was sie da gewollt haben.
Es ging wohl in der Hauptsache darum, Freunde zu treffen, und Lucca war für alle Parteien gleich weit oder nah, je nachdem wie man es sehen will.
Und wie der Zufall es wollte, waren auch alle etwa gleichzeitig da. Man traf sich an der Piazza Anfiteatro, wo einer der Männer gleich einen Tisch für 19 Uhr und 12 Personen reservierte.
Danach die übliche Runde City-Viewing, was in Lucca eher langweilig ist, ganz besonders der Dom, und Volvo Santo, das aus dem Orient stammen soll, ja ja.
Am Ende geistern die anderen durch die Kirche, nur Gianna steht da mit zwei ihrer Freundinnen, den besten, allesamt noch aus der Studienzeit. Und obwohl, nein, weil sie alle Geschichte studiert hatten, stehen sie da begucken das Volvo Santo und nicken ironisch im Takt.
"Ja, klar", sagte Stefania. "Bestimmt."
"Lass uns rausgehen", bittet Gianna.
"Aber draußen sind es 42 Grad", wirft Viola ein. "Hast du das übrigens gesehen?" Sie wirbelt herum und zeigt auf das Gerüst, auf dem die Kerzen stehen, die man, nach Abgabe einer kleiner Spende, für jemanden oder für einen Wunsch anzünden kann.
Giana blinzelt. "Das gibt es nicht."
"Jaha", quietscht Stefania. "Alles LEDs."
Entgeistert nähert sich Giana den Kerzen. Lange, schlanke Plastikkerzen in Reih und Glied, von denen willkürlich einige leuchten. Die anderen sind stumm. Das kommt ihr furchtbar profan vor.
"Wenn du Geld einwirfst, geht irgendeine an", flüstert Viola.
Giana wirbelt herum. "Man kann sich nicht mal eine aussuchen?"
Die Freundinnen schütteln die Köpfe.
"Du lieber Himmel."
Der Rest des Tages? Träge, weil es heiß ist, langweilig, weil es in Lucca nichts zu gucken gibt, sparsam, weil die Stadt nicht mal zum Shoppen einlädt. Aber lustig, sie hatte Viola ewig nicht mehr getroffen.
Viola drängt sich an sie. "Warum hast du das Zitronenkleid nicht an? Ich hab' mich so auf dein Zitronenkleid gefreut."
"Das ist nur für Florenz. Aber ich hab' mir die gelbe Tasche gekauft." Sie hebt sie kurz hoch.
Viola und Stefania quietschen im Chor.
Essen, Trinken, Wein und Gelächter - die ganze Zeit kriegt Giana die LEDs im Dom nicht aus dem Kopf.
Was hast du eigentlich erwartet?
Ich weiß es nicht! Jedenfalls nicht so etwas!
Auf dem Heimweg, wie gesagt, ist es dunkel. Ganz raus aus Lucca sind sie noch nicht, sie rasen über die Autostrada durchs Industriegebiet, als eine Nachricht von Stefania aus dem Wagen hinter ihr eintrifft.
Rechts rausgucken. Der Mond! 🌝
Giana wirft einen Blick aus dem Fenster.
Ja, da ist eine extrem tief hängende blutrote Kugel, die irgendwie zwischen der Neonwerbung des Industriegebietes verschwimmt.
Ist nicht echt, schreibt sie zurück. Das ist irgendeine Werbung.
Gian-Luca, am Steuer, wirft ihr einen Blick zu. "Sieht krass aus."
"Das ist doch nicht echt", fährt sie auf. "Das kann doch gar nicht echt sein! Das hängt zu tief und ist zu groß!"
Sanft streicht er ihr übers Bein. "Natürlich ist der echt. Eine echte Mondfinsternis."
Aber sie glaubt es nicht. Kann es nicht glauben. Unmöglich, nicht nach den LEDs im Dom.
Auf dem ganzen Heimweg reden sie kein Wort darüber, zu viel anderes dominiert jedes Gespräch, sie hatten die anderen lange nicht gesehen.
Neue Jobs, eine Trennung, zwei neue Haustiere, der zurückliegende Urlaub an der Amalfiküste, so weit oben auf dem Berg, dass das Gewitter unter ihnen stattgefunden hatte.
Das war echt gewesen. Zuckende Blitze, bläulich schimmernd in rabenschwarzer Nacht, direkt unter ihnen.
Sie rasen von der Autobahn runter, auf die Telepass-Station zu, und mit gemäßigtem Tempo hindurch.
Gelbe und blaue Lichter der Station, ein paar Autorückleuchten, und in wenigen Häusern der kleinen Ortschaft, die sie passieren, brennt noch Licht.
Die nächsten 37 Kilometer gurken sie über die Landstraße. Nichts als Schwärze, aber endlich kann man mal das Verdeck runter lassen. Dazu ist es tagsüber zu heiß. Aus dem Handschuhfach klaubt sie das Mückenspray, sprüht sich ein, sprüht Gian-Luca ein, lacht mit ihm.
An den Mond denkt sie allein deshalb nicht, weil er geographisch hinter ihnen liegt.
Im Westen.
Und selbstverständlich dreht sie sich nicht um, weil sie ihn ja nicht für echt gehalten hat. Kurz vor Zuhause, eine Ansammlung Häuser, genannt Montespertoli, durchstößt ein blinkendes Schild die Rabenschwärze der Nacht.
"Du darfst die Kippe nicht rauswerfen." Mit der Hand zuckt sie zum Schild.
"Mach ich nie."
"Aber du aschst immer raus, wenn das Verdeck auf ist. Da! Nicht!"
Er lacht. "Gegen Gewohnheit machst du nichts. Aber ich pass' auf."
Paolo im Wagen hinter ihnen hupt, weil sie zu ihrem Haus abbiegen. Gian-Luca hupt sachte zurück, und als Nächstes verlassen sie die befestigte Straße, um die letzten zwei Kilometer Schotterpiste zu ihrem Haus zu fahren. Sie biegen nach Osten ab.
Kein Mond.
Nur Finsternis.
Aber sie denkt ja auch nicht dran, weil das unmöglich echt gewesen sein kann, zwischen all der Neonwerbung.
"Oops", bringt sie raus. Der Wagen hat hinten aufgesetzt, was ja keine sonderliche Überraschung ist. Links und rechts Berge im Dunkel. Das Geschrei der unvermeidlichen Zikaden, die Zypressenallee, die zu ihrem Grundstück gehört.
Keine Neonwerbung. Keine LEDs.
Nichts als Schwärze, warme Luft, geschwängert von Pinien und Thymian. Langsam poltern sie auf ihr Häuschen zu, und parken unter dem Carport.
"War schön heute", sagt er, während er abschließt.
"Hm." Sie streckt sich mit einem breiten Lächeln im Gesicht, atmet die Luft mit ihrem ureigenen Geruch ein. "Aber Lucca ist doof. Das nächste Mal treffen wir sie alle aber woanders."
Sie fühlt, wie ihr ihre Katze um die Waden streicht, bückt sich, um sie hochzuheben, derweil er auf die Tür zugeht, und aufschließt.
Aber sie bleibt einen Augenblick stehen, sieht hinunter. Weinberge malen sich nur als Konturen in die Landschaft. Es ist immer noch Rabenschwarz. Die vorbei huschende Fledermaus fühlt sie nur, weil Mika aus ihrem Arm will. Sachte setzt sie sie auf dem Boden ab, den Blick versonnen, nein, glücklich gen Osten gewandt, wo, zu weit fort, um es sehen zu können, die Lichter der Schönsten die Sommernacht bestrahlen.
Firenze.
"Ich hab das immer schon bescheuert gefunden, dass sie Venedig La Serrinissima nennen", lacht sie. "Die Allerdurchlauchtigste."
Der warme Wind streichelt ihre Haut. Er bleibt in der Tür stehen, lächelt.
"Was ist?" Sie lässt sich in der Taille umfangen.
"Sieh mal."
"Was denn?" Unwillig lässt sie sich an der Schulter herumdrehen, aber sein Arm liegt noch um ihre Taille. "Die Mondfinsternis."
Ihre Augen weiten sich verblüfft. Eine blutrote Kugel in rabenschwarzer Nacht.
Sie lacht, und es klingt glücklich.
Hier kann sie es glauben.
Dort, wo kein Licht die Dunkelheit stört, die Zikaden schreien, die Katzen weich um ihre Waden streichen, und die Luft nach Thymian riecht. Hier, wo, wenn überhaupt, nur echte Kerzen brennen.