Sein Antlitz unterm offenen Helm verriet den Mann, der aus dem Jünglingsalter tritt. Am Sternengürtel blitzte – Satans Schrecken – das scharfe Schwert. In seiner Hand, der Speer.
John Milton, das verlorene Paradies, Buch XI
Jedes Mal, wenn sie versuchte, weiterzugehen, konnte sie nichts anderes, als sich herumzudrehen, um auf den marmornen Sarkophag zu starren. Er zog sie zurück. Irgendwie. Und die Aussage, wer darin lag, kam ihr zu klein vor.
Zu unbedeutend.
Jedes Mal, wenn sie versuchte, weiterzublättern, konnte sie nicht anders, als innezuhalten. Um zwischen den Zeilen etwas zu finden, das besser erklärte.
Es ist eine wissenschaftliche Arbeit, flüsterte diese niederträchtige hirnlastige Stimme in ihrem Schädel. Zwischen den Zeilen sind weiße Linien.
Da steht nix.
Sie wischte den Einwand fort, seufzte und klappte das Buch zu. Eine Wolke Staub stob auf. Ohne eigenes Zutun schossen ihr die Brauen in die Höhe. Es war ja nicht so, dass der Schinken, eine Übersetzung ins Englische aus dem Jahr 1942, soeben aus dem oberen Regal einer mit Spinnweben überzogenen Bibliothek gezogen worden wäre. Phia trug es schon eine Weile in einer Tasche mit sich herum, in die sie es jetzt stirnrunzelnd verstaute.
Es half nichts. Die alten Steine, die Krypta, all das schien ihr nicht helfen zu wollen, gegen das ungute Gefühl zu bestehen, das sie jedes Mal beschlich, wenn sie die Quellen studierte, und versuchte, die Färbung der Autoren herauszufiltern.
Dabei kam ihr alles falsch vor, was darin stand. Nein, nicht falsch…
„Nicht falsch. Unzureichend.“
Erschreckt fuhr sie herum, kniff die Augen zusammen, um in den Schatten der hellen Säulen zu spähen, deren Corpus das Licht der mehrarmigen Kerzleuchtern auf den kleinen Tischchen zwischen den Sarkophagen zurückwarfen. Aus dem Finsteren des hinteren Teils der Krypta, abgesperrt durch ein dickes goldfarbenes Band, trat ein Mann. Sonderlich furchteinflößend sah er nicht aus. Auch wenn er auf seine Anzughose kein Jackett trug, und auf eine Krawatte hatte er auch verzichtet.
„Wo kommen Sie denn her?“ Phia presste ihren grünen Stoffbeutel mit dem Buch an die Brust.
„Aus der Rumpelkammer des Herrn?“ Schief grinsend zuckte er mit dem Daumen auf den Bereich hinter der Kordel, in dem sie aufeinandergestapelte Stühle ausmachte. Sie kam nicht dagegen an, sie lachte. Und er lacht mit. Ein einnehmendes Lachen, so verfühererisch, wie die beunruhigend beruhigende Stimme. Eine dunkelblonde Haarsträhne kitzelte seine Nasenwurzel. Mit einer Hand schob er sie zurück, wohin sie gehörte. Zum Rest des durchaus dichten leicht gewellten eigenwilligen Haars, dessen seitlicher Fassonschnitt die schlimmsten Befreiungsversuche lebendig gewordener Strähnen verhindern wollte. An beiden Ohrläppchen schaukelten dabei kleine goldene Kreolen.
Er kam näher. Taxierte sie fragend. Sie nickte. Er setzt sich hin. Einfach auf die Grabplatte.
„Was meinen Sie mit unzureichend?“ , fragte sie.
Statt zu antworten streckte er eine Hand aus, und als sprächen sie eine Geheimsprache, kramte sie das Buch wieder raus, um es ihm zu überreichen.
Willkürlich klappte er es auf.
„Da er noch keineswegs alt war“, las er leiernd vor, „und daher nicht enthaltsam leben konnte, als aufrechter Mann aber den unehrenhaften Verkehr verabscheute, nahm er sich eine zweite Frau, die der ersten an Sittsamkeit und Tugend…“ Er lachte laut auf. In seinen Augen leuchteten plötzlich Funken. „Dieser Amatus, der das geschrieben hat… ich bitte Sie. Er kannte meine Mutter nicht.“ Als er das Buch zuklappte, stob kein Staub auf. „Sittsam“, keuchte er. „Fressande. Du lieber Himmel.“
„Ich war schon geneigt, den religiös motivierten Kram etwas abzuschwächen.“ Phia lehnte sich an eine Säule.
„Was wollen Sie überhaupt machen?“ Aus der Hosentasche kramte er ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten, fummelte eine raus, riss das Zündholz auf der Sargplatte an. „Meine Vita schreiben?“
Hastig schaute Phia sich nach Zeugen um. Erst da ging ihr auf, was er gesagt hatte. „Ihre? Wie kommen Sie darauf, dass ich so etwas glaube?“
Zur Antwort streckte er ihr eine Hand hin. Zuerst zögerlich machte sie die Schritte, die es bedurfte, die Distanz zu überbrücken, auf ihn zu. Das letzte Stück, als sie seine kraftvolle Hand erreicht hatte, zog er sie. Hinein in einen Wirbel aus Licht und Schatten, einen Gang entlang, einer Röhre gleich, bis sie auf einer saftigen Wiese standen und Phia ins Licht blinzelte.
„Was…?“
„Die sittsame Fressande.“ Er feixte, zog sie an der Hand in den Eingang des Heuschobers, in dem eine Frau verschwand, die, kaum darinnen, ihr Mieder aufschnürte. „Es geht mir gehörig auf den Rocksaum“, keifte sie dabei, „Das wir uns in einem Heuschober vergnügen müssen. Als würden wir immer noch Ehebruch begehen! Ich bin jetzt deine Frau, Tankred!“
Im Heu wartete ein Mann mit erigiertem Glied, der notgeil aus dem Hemd guckte. „Fressande, es ist…“
„Zu klein hier!“ Mit mürrischer Miene kniete sie sich vor ihn. „Die ganze Bagage nimmt mir die Luft zum Atmen!“
„Es ist nun mal nicht zu ändern“, knirschte der Bursche und fuhr sich schabend über die blonden Bartstoppeln. Sein Penis verlor an Standfestigkeit. Diskussion turnten ihn immer derart ab.
„Du liebes Lottchen“, wisperte Phia, die sich bewusst war, wie eng ihr Begleiter hinter ihr stand. „Die Aufrechtigkeit meines Vaters erschlafft“, feixte er. „Aber keine Bange.“
Phia kicherte. Im Schober wurde weiter gekeift. „Die blöden Burschen deiner ersten Frau sollen woanders in den Dienst treten.“
„Sie sehen sich ja schon um.“ Flehend streckte der Mann die Arme nach dem Weib aus. „Blöd?“, hauchte Phia.
„Nun, gemessen an mir, und ich bin ihr Ältester“, mit dem Kinn wies er auf Fressande, „sind sie alle nicht klüger als ein Eimer Grütze.“
„Ich ahnte.“ Sie lehnte sich an ihn. „Können wir zurück? Ein bisschen unheimlich ist es mir schon.“
„Was schreibst du denn jetzt? Eine Vita? Oder einen dieser Romane, in denen ich umgeben von Blödmännern in den Süden reise, einer religiöser als der andere, aber mit Bärten.“ An der Hand zog er sie vom Schober weg, schlenderte mit ihr gemütlich über das kleine Anwesen, in dem es vor Stimmen und Tierlauten nur so summte. Niemand schien sie zu sehen, als wären sie aus Glas. Oder Teil der Luft. Nur ein Hausschwein guckte sie vorwurfsvoll an.
„Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass im Mittelalter alle schrecklich religiös wäre“, gab sie amüsiert zurück.
„Ach?“ Er blieb stehen. Grinste. „Na ja… nach alter Wikingermentalität würde ich raten, die Religion zu wählen, die am nützlichsten ist. Und solange sie Glück bringt.“
Auf einem staubtrockenen Pfad erreichten sie den Kreuzweg.
„Wenn ich es später entscheide?“, schlug sie scheu vor. „Ob Vita oder Roman, ich würde es gerne hören. So, wie du es siehst.“
Unterhalb der Füße Christi sank er den Pfahl entlang, der das Kreuz war, bis er saß und neben sich auf den Boden tappte. „Lässt sich einrichten.“