Vogelscheuche
(Montag 8:15 Uhr bis 9: 15 Uhr Die Geschichte, sofern sie eine ist, endet abrupt)
Morgens um sieben ist die Welt noch so in Ordnung, wie sie derzeit sein kann.
Also in Ordnung.
Wobei Jana oft denkt, dass die Welt immer schon in Unordnung war.
Das ist die Natur der Welt, sie kann nichts dafür, und sie wird auch anderer Meinung sein, die Welt.
Sie hält sich, sofern sie ein Bewusstsein hat, für ganz ordentlich und würde höchstens mokieren, dass es der Mensch ist, der neben ihr wie eine schlampige Cousine daher kommt, wahlweise Cousin, mit der unangenehmen Tendenz sie in Unordnung zu bringen.
Jana hat es nie leicht gefunden, sich mit ihr in Einklang zu bringen, ist aber inzwischen alt genug, Mittel und Wege dafür gefunden zu haben, die zumindest den Anschein erwecken.
Aber vermeintliche Ordnung im Chaos einer pandemischen Weltlage kann nur im Kleinen aufrecht erhalten werden. Möglichst indem sie die Augen verschließt vor den Dingen, die ihr sonst immer ins Gesicht springen.
Dass die Menschen miserabel miteinander umgehen, aber immer das Gegenteil behauptet wird.
Dass sie deshalb ihre Selbstständigkeit eingebüßt hat.
Seit April war sie nicht mehr alleine einkaufen, da sie dafür immer Hilfe braucht. Aus der eigenständigen Frau, die trotz Rollstuhl in ihr Auto springt, eben den mit einem Handgriff der jahrzehntelangen Routine auf dem Beifahrersitz verstaut und mal eben flott durch den Rewe streift, ist ein Mädchen geworden, das einkaufen lässt oder einen befreundeten Fußgänger mitnimmt.
Weil sie keinen Bock mehr darauf hat.
Darauf, dass die Leute sie angucken, als hätte sie die Pest, wenn sie darum bittet, etwas aus einem höheren Regal gereicht zu bekommen.
Man könnte sich ja an den Fingerspitzen berühren.
Darauf, dass ihr jemand sagt, sie hielte alles auf und solle zurück in ihre Einrichtung.
Letzteres war dasjenige, das ihr den Rest gegeben hat.
Und ihre eigenen Belange kommen ihr selbst manchmal banal vor, wenn sie darüber nachdenkt, wie es beispielsweise Menschen geht, die psychisch nicht in der Lage sind, eine Maske zu tragen, weil sie ein zurückliegendes Trauma darunter glauben lässt, zu ersticken.
Schichtet die Scheiterhaufen auf.
Sie selbst kann das Ding tragen. Abgesehen von einer einzigen schweren Hautentzündung an der Nase vor einem Monat war bisher nichts passiert, das sie daran hinderte.
Was sie an allem hindert, in jeder Hinsicht, sind die Menschen.
Seit einigen Wochen misst sie Bluthochdruck, mehrfach exorbitant durch die Decke gesprungen, sodass sie sich aufgerafft hat, ihren Hausarzt zu besuchen, was auch so ein Drama war.
Dieser Tage einen Termin zu bekommen. Dann da zu sitzen.
EKG, Halsschlagaderultraschall----alles okay.
Während des Gesprächs mit dem Doc misst er ihren Blutdruck und konstatiert zweihundert zu einhunderteins.
„Merken Sie das?“, fragt er sie.
„Nein, ich merke das nicht“, sie wirft die Arme in die Luft, „deswegen hat es ja so lange gedauert, bis ich kam.“
„Das ist der Sport“, er packt das Messgerät auf den Tisch, „eine lange Weile kann Ihr Körper das aushalten. Internistisch sind sie blutjung. Aber auf Dauer ist das natürlich brandgefährlich.
„Aber was ist das denn?“
„Das wird psychovegetativ sein.“
Sie fühlt, wir ihr Gesicht warm wird vor Ärger. „Das letzte Mal, dass jemand sagte, meine Beschwerden wären psychisch, hatte ich einen mechanischen Darmverschluss.“
Leicht verdreht er die Augen. „Sie wissen...“
„Ja ja, ich weiß. Es ist nur so, dass ich das nicht benennen kann. Mich machen die Menschen verrückt. Alle benehmen sich, als hätten sie ihren Verstand eingebüßt. Und wenn es im engsten Umfeld ist, gibt es Streit. Diesen Streit kann ich nicht mehr ertragen“
Einen Augenblick lang lässt sie den Kopf hängen. Denkt an den Riss, den das Virus zwischen ihr und der Welt vergrößert hat. Als sie wieder hochsieht, schwimmen ihre Augen in Tränen, was wirklich etwas heißt, denn sie ist nicht nah am Wasser gebaut.
Er nickt verstehend, derweil er am PC ein Rezept vorbereitet. „Ja. Niemand geht mehr auf der Straße. Alle rennen links im Graben oder rechts im Graben, aber auf der Straße geht niemand mehr. Das zieht sich durch alle Familien.“
Die Straße.
Auf dem Heimweg benutzt sie sie.
Statt sich abholen zu lassen, wie vereinbart, fährt sie die fünf Kilometer mit dem Rollstuhl alleine. Weil sie Seitenstraßen nimmt, kann sie auch mittig fahren, und so scheint es ein Bild dessen zu sein, was sie eben hörte.
Mitten auf der Straße, wo keine Schlaglöcher sind und der Bürgersteig nicht schief, ist außer ihr niemand.
Die lange Strecke bringt sie zur Ruhe, des hohen Blutdrucks zum Trotz.
Das war Donnerstag.
Freitag Abend ploppt eine Sprachnachricht der Freundin auf, mit der sie Samstag verabredet ist. Während des Kochens rauscht Andreas Stimme, der man das Unbehagen schon anhört, über die Dunstabzugshaube.
In Jana tickt der Ärger. Sie wirft den Kochlöffel in die Spüle und rauscht zu Tim in den Hobbyraum, wo er im enervierenden Rainbow-Gesang, der blechern aus der Backbox des Flippers dröhnt, eine Störung am Flipper repariert.
„Hör dir das an!“, schreit sie darüber, „Andrea fragt, ob wir uns gesund fühlen! Weil sie ja morgen kommen!“
Somewhere over the rainbow...
Die Musik bricht ab, weil er einen Schalter gedrückt hat. Sein Kopf taucht aus dem Corpus des großen Gerätes, unterhalb des hochgeklappten Playfields auf. „Was?“
„Ob wir uns gesund fühlen“, ihre Stimme kippt nach hinten weg, „eine Unverschämtheit ist das.“
Er legt den Schraubendreher auf die Werkbank und klappt das Playfield runter.
„Als ob ich mich nicht von selbst melden würde, wenn wir...“
Er nimmt sie kurz in den Arm, aber an seiner Muskelspannung spürt sie, dass diese Anfrage auch ihn verärgert. „Sag ihr, sie könne sich das selbst beantworten. Indem sie überlegt, wer gefährdeter ist. Du warst seit dem Urlaub vor einer Woche nicht draußen. Ich habe 5-Tage die Woche Homeoffice. Sie ist Arzthelferin in einer Corona-Praxis, die mit einer einundzwanzigjährigen Studentin kommt.“
Sie nickt. Löst ihren Kopf von seiner Brust und deutet mit dem Kinn zum Flipper. „Was ist denn los?“
„Die Vogelscheuche war kaputt. Geht jetzt aber wieder.“
Später, nach einem Whats app-Austausch mit vielen Smileys, von denen Tim später sagt, sie sähen verkrampft aus, ist das Problem oberflächlich aus der Welt geräumt.
Andrea nebst Familie kommt morgen.
Die Blutdrucktabletten wirken nicht. Immer noch knallt der Druck durch die Decke.
Jana schläft kaum.
Konstatiert anderntags, dass sie nicht viel anders aussieht als die Vogelscheuche im Flipper, und geht mit Gesichtsmasken und Gurkenpads für die Augen dagegen an. Als das Zeug gerade abgewaschen ist, ruft ihre Mutter an, um weinend zu verkünden, dass deren Kater gestorben ist.
Was in jeder Hinsicht Mist ist, denn der hat sich, obwohl schon 20 Jahre alt, keinen miserablen Zeitpunkt dafür ausgesucht. Zwei Tage vor Mamas OP im Krankenhaus.
Wo Jana sie nicht wird besuchen dürfen.
Nur ein Besucher eine Stunde am Tag und das wird natürlich ihr Vater sein.
Sie müht sich ab, zu trösten, weil es auch sie schmerzt. Auch sie hing an dem Kater.
Die Zeit rückt immer weiter vor, der Besuch kommt bald. Aber zwischen dem hier und dem Besuch liegt ein Mordskrach mit ihrem Vater, der nachdem der Kater gestorben war, seinen Ärger über den Tierarzt bei ihr ablädt. Sie weiß genau, dass sie Ventil ist. Kann aber nicht mehr Ventil sein.
Ihr Körper lehnt sich dagegen schon so lange auf.
Sie schreien sich an.
Es geht weder um den Kater, noch um den Tierarzt---es geht um Angst. Seine Angst vor dem beschissenen Virus, die so omnipräsent ist, dass sie seit April alles in ihr kaputt macht, was mit dem Wissen einherging, geliebt zu werden.
Ich kann nicht mehr, denkt sie, als sie darin im Badezimmer steht, sich die Hände wäscht und in den Spiegel schaut.
Ich kann nicht mehr.
Es ist egal, dass du wie eine Vogelscheuche aussiehst.
Alles ist egal.
Vor Ablauf des Jahres habe ich einen Infarkt, schreibt sie ihrer besten Freundin. Die nicht die ist, die gleich kommt.
Ich ruf dich an.
Geht nicht. Der Besuch kommt gleich.
Dann kannst du ja auflegen.
Okay.
Sie telefonieren.
Sie kotzt sich aus, weint, lässt sich umfangen.
Dabei rauft sie sich die Haare, reibt sich die Augen, ungeachtet der Wimperntusche, die sie bereits aufgetragen hat.
Es wird besser.
Erträglich.
Mitten drin eine Nachricht von Papa. Ich hab dich lieb.
„Sie kommen“, ruft Tim ins Arbeitszimmer, und sie atmet einmal tief durch.
„Ich muss Schluss machen. Danke. Ich danke dir.“
„Alles Gut.“
Jana drückt den roten Knopf, reibt sich blind die verschmierte Wimperntusche unter den Augen weg und tritt in die Küche, wo schon ein Wirbel an Begrüßungen umherschwirrt.
„Na, schöne Frau!“, ruft Andrea und nimmt sie in den Arm.
In den Arm. Andrea ist die Nachricht von gestern selbst schon peinlich.
Jana stutzt. „Schöne Frau?“
„Ja“, quietscht Andrea vergnügt, „die Bilder aus eurem Urlaub. Und sieh dich an. Meine Güte, wie machst du das?“
Jana blinzelt.
Wahrnehmung, denkt sie.
Ich bin für jeden eine andere, aber nie die, die ich für mich bin.