Unter azurblauem Himmel düst Jana beglückt ob ihres Könnens die Rheinprommenade entlang.
Weil sie es kann. Nur weil sie es kann.
Sie ist vier Jahre alt, blondbezopft, in ihrem rot gepunkteten Kleid und mit den weit aufgerissenen dunkelbraunen Augen und dem vergnügten Lachen im Gesicht das leibhaftig gewordene Glück.
Weil sie es kann, weil sie es kann…
…flitzt sie zweimal um den Buggy herum, in dem Sylvie sitzt. Die es noch nicht kann und mit ihrem verzerrten Kleinmädchengesicht die leibhaftig gewordene Niedertracht spiegelt.
Mit aller Gewalt stemmt sie sich bei der nächsten Umrundung ihres Throns aus dem Buggy und schubst Jana um.
Die fällt auf die Knie. Schreit vor Schreck und weint lange still.
Später, viel später kommt ihr der Gedanke, dass sie über die Boshaftigkeit weinte und nicht wegen des Schmerzes.
Aber sie bleibt.
Sie streitet nicht mal.
Was hat sie auch für eine Wahl, wo diese gefährliche Freundschaft auf die ihrer Mütter zurückzuführen ist.
Jana, drei Wochen vor Sylvie geboren, überholt sie mit jedem Jahr, das sie heranwachsen. Und jedes Mal, wenn sie etwas Neues gelernt hat, stellt Sylvie ihr eine Falle.
Jana trinkt Spüli, ihr wird der Magen ausgepumpt.
Sie isst einen Reißnagel und die Erwachsenen fangen an, über ihre Ungeschicklichkeit zu tuscheln. Ihre Mutter, und das belastet sie, wird immer vorsichtiger mit ihr.
Sie könnte ihr sagen, dass keine Gefahr besteht, wenn Sylvie nicht in der Nähe ist, aber sie tut es nicht.
Weil sie keine Wahl hat, besucht sie mit ihr die weiterführende Schule. Irgendwann, es ist Mitte der 80er Jahre als sie 15 werden, ist das Extravaganteste, zu dem sich die Freundin aufraffen kann, einen weißen Handschuh zu tragen, wie Michael Jackson.
Jana, die Stille, die nur gerne und viel lacht, sieht in der Zeit schon wie eine Eisprinzessin aus. So wirkt sie auch. Sie ist mäkelig mit Sprache und Wörtern, analysiert alles und wird im allgemeinen für schwierig gehalten. Arroganz wird zu ihrer Mauer. Ihr Äußeres zu einer anderen Art Wall. Das Haar zu einem komplizierten Konstrukt aufgetürmt, schwarze Klamotten und flache Schuhe, so spitz wie eine Harpune. Das Gesicht akkurat geschminkt, hat sie jenseits der Schule ganz andere Freunde. Welche, mit denen man über Sartre und Camus reden kann, mit denen man The Core und Japan hört. Für Sylvies Eltern sehen die gefährlich aus, sie sind es aber nicht.
Weil man das zu ihrer Zeit noch kann, wenn man minderjährig ist, geht sie freitags und samstags so lange tanzen, bis der Wartesaal zu Macht. Also bis morgens um 4 Uhr. Bis dahin hat sie 2 Southern comfort mit Kirschsaft getrunken, ihr Taxigeld nicht angerührt und singt noch The power of love mit den Jungs, ehe sie beschwingt heraus stürmt.
Sylvie, die sich manchmal an sie klebt, damit sie in den Schuppen überhaupt reingelassen wird, interessiert sie ohnehin nicht. Kaum drinnen, pflegen sie getrennte Wege zu gehen.
Zu der Zeit ist das Gerede schon in vollem Gange.
Sylvie, so normal angezogen und angepasst, dass es schon weh tut, wird beim Schwarzfahren erwischt und behauptet, Jana wäre es gewesen.
Sie sieht so brav aus, mit ihrem mausbraunen, glatten langem Haar.
Jaja, natürlich ist jedes Wort wahr, das sie sagt, wenn sie mit dem Finger auf Jana zeigt, die im Übrigen froh sein kann, dass ihre Eltern nur minimal wanken. Aber die Mütterfreundschaft knirscht. Andere Mütterfreundinnen haben sich schon positionierst, halten den Stab hoch, den sie über Jana brechen werden.
Ihre Mutter weint viel, und das tut ihr leid. Aber das Höchste, wozu sie sich aufraffen kann, ist, dass sie beim Sportunterricht auf das blöde Band latscht, dass sie alle gymnastisch tanzend um sich schwingen.
Auf Sylvies Band.
Rumms!
Mit der Nase voraus landet die auf dem Linoleumboden der Turnhalle und schreit wie am Spieß.
„Oh“. Jana hält sich die Hand vor den Mund. „Das tut mir leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“
Der Stab wird bald gebrochen.
Samstag Nacht im Saal, es ist halb vier, sieht sich Jana in dem Durcheinander suchend um. Wo, verdammte Axt ist Sylvie? Die hat die Garderobenmarken.
Sie schiebt sich durch die Menge, an der Tanzfläche vorbei und weiß nicht, wen sie fragen soll, denn ihre exaltierten Waver-Freunde kennen Sylvie gar nicht. Aus den Boxen dröhnt Our Darkness.
Sie reißt Richard an der Schulter herum. „Hast du Sylvie gesehen?“
Er blinzelt irritiert. „Wen?“
„Das Mädchen, mit dem ich manchmal komme!“
Er zuckt die Achseln, umfasst sie um die Taille und nötigt sie ein wenig mit ihm den Tanz anzudeuten.
„That like these urban nightmares We'd blacken each other skies“, grölt er mit.
Das Saxophon setzt ein, Jörg schwingt um die Ecke. Er schiebt sich die lange schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Hoch, zurück aufs Deckhaar, das über ausrasierten Schläfen unter der schwülen Hitze eingeknickt ist.
Er sollte dringend das Haarspray wechseln, denkt sie.
„Die auf der Domplatte beim Kiffen erwischt worden!“, schreit er.
„Was?“
„Polizeihei“
Grundgütigen.
Jana fährt heim, wo der Ärger auf sie wartet. Sie hat noch nie an einem Joint gezogen, noch nie im Leben. Aber falls Sylvie was mitgehabt hatte, würde sie wetten, dass sie behauptet, es wäre ihr, Janas Mantel…
Und so ist es dann auch.
Ihre Eltern glauben an sie, was ein gewaltiges Glück ist, und am Ende kommt doch die Wahrheit raus, die jeder glaubt, auch die Polizei.
Nur Sylvies Mutter glaubt sie nicht. Hysterisch kündigt sie das Ende der Freundschaft an.
„Jana ist kein Umgang für meine Tochter!“, schreit sie. „Seht sie euch doch an! Wie sie schon rumläuft!“
Alle Freundinnen wenden sie von Janas Mutter ab. Es tut ihr leid, unsäglich leid, aber dieses Mal hat sie sich wehren müssen.
Sylvie wechselt die Schule, damit sie dem schlechten Einfluss entzogen wird, den Jana ausübt.
Über Bekannte um drei Ecken hört sie manchmal von ihr.
Als sie Abi macht, macht Sylvie eine Lehre.
Als sie sich an der Uni einschreibt, bricht Sylvie die Lehre ab.
Sie weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Vor 12 Jahren, als sie in ihrem BMW Cabrio sitzt und gerade das Verdeck runter macht, trifft sie Sylvies Mutter.
„Jaja, ihr geht es gut. Sie hat geheiratet.“
„Dann richte ihr Mal schöne Grüße von mir aus.“
„Mache ich.“ Der Blick gleitet über das Auto und dann über Janas äußerst extravaganten, hinten extrem hoch ausrasierten Pagenschnitt in weißblond. „Hätte man ja nicht gedacht, früher. Dass du dich mal berappelst.“
„Ich habe mich nie berappeln müssen, Tante Greta. Ich hatte nie irgendwelche Probleme. Ich hatte nur immer einen guten Geschmack.“
Sie dreht den Zündschlüssel um.