Die Glückspilzin
Wenn da mal eine Ambition gewesen war, weiß sie es nicht.
Welchen Schulabschluss sie machte, hatte sie nie geplant, weil es selten ist, dass man mit sieben Jahren schon weiß, was man beruflich machen möchte, und welche Ausbildung man dazu benötigt.
Wenn, dann nur tendenziell.
Soldatin wollte sie mal werden, aber in ihrer Generation kam das nur für Jungs infrage.
Manchmal Journalistin, aber nur weil sie gerne schrieb.
Also drückte sie die Schulbank wenig ambitioniert. Dabei war sie froh, das Geodreieck korrekt halten zu können. Und wenigstens der Dreisatz funktionierte. Mathe war eine Katastrophe, aber diese sogenannten Geisteswissenschaften flogen ihr nur so zu.
Huch. Sie kratzte sich verwundert am Kopf. Das ist ja leicht.
Sie erinnert sich später nicht, jemals Hausaufgaben gemacht zu haben. Es sei denn, es ging um ein Referat zu einem Thema, das sie erfreute. In diesem Fall bis in die Nacht am Schreibtisch zu sitzen, zu recherchieren, auszufeilen und zu gestalten, wäre womöglich ambitioniert gewesen, wenn sie einen Gedanken an Erfolg verschwendet hätte.
Tat sie aber nicht. Es machte schlichtweg Spaß.
Literatur, Geschichte, Politikwissenschaften, Philosophie, Religion – alles flog herbei, sie schnappte es auf, lernte nie, las viel, nur nicht für Mathe, und wenn da null Ambition gewesen war, kam doch ein respektables Abitur dabei heraus.
Und nun?
Keine Ahnung, aber alle studieren. Kann man machen, am besten etwas, das zufällt.
Obwohl Latein da so ein Hindernis darstellte, aber nur so lange, bis sie merkte, dass es ihr Spaß machte. Und obwohl sie keinerlei Ambitionen hatte, macht sie das große Latinum an der Uni, obwohl sie bloß das kleine gebraucht hätte. In der Uni, auf ihrem Pausenbrot kauend lauschte sie später ihren Freundinnen, die ambitioniert den richtigen Partner suchten, denn nach dem Studium musste das Haus her, die Kinder und der Hund, der Mittel- bis Oberklassewagen nicht zu vergessen. Und so wurde jeder Bewerber einer Prüfung unterzogen.
"Micha, der Medizinstudent mit dem Jeep?", schlägt sie vor.
"Der ist sexy, das Herz schreit ja, aber er ist zu umtriebig. Mit ihm wird man später den Karakorum bezwingen müssen", war die Antwort.
Sie suchen und suchen und kein Anwärter wird ihren Ambitionen gerecht, aber sie findet den Traummann zufällig auf der Domplatte.
So wie die weltbeste Freundin auf einer Hartschalenbank zufällig in der Uni.
Ihren Führerschein macht sie Weiberfastnacht in Köln.
Den krisensicheren Job findet sie nebenher in einem Bürogebäude, als sie im Gang wartet und einen Flyer vom Tischchen neben den Wartebänken aufklaubt.
Warum nicht, denkt sie. Geh‘ doch mal zum Bewerbungsgespräch.
Ohne die geringste Ahnung, was sie dort gefragt werden würde, nimmt sie den Zug nach Münster, und weil die Fahrt lang ist, und der Kalender einen Montag bezeugt, kauft sie den „Spiegel“ und hat ihn Münster HBF ausgelesen.
Alle Bewerber sind nervös, stromern über den Gang, kauen Nägel, doch sie sitzt da, versucht freundliche Konversation mit den Nervenbündeln und wartet, ambitionslos und geduldig.
Sie fragen sie tagesaktuelle Dinge.
Oha, wie praktisch. Gut, dass ich den Spiegel gelesen habe.
Und ein paar historisch.
„Ungemein originell, hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass ich aktuell noch Geschichte…“
Sie tröstet die anderen Bewerber im Zug, und meint jedes Wort ernst.
Dafür hängt sie zwar das Studium an den Nagel, aber sie hatte ohnehin keine großen Ambitionen, Weltbeste dieses Fachgebietes zu werden. Und ein Titel?
Vollkommen überbewertet. Lieber fährt sie fröhlich auf die Arbeit, bei der sie übrigens bemerkt, dass sie bombig Gesetze lesen und verstehen kann.
Huch, denkt sie. Dann hätte ich vielleicht Jura studieren können.
Aber so richtig wichtig ist es nicht.
Der Traummann ist da, und auch sonst läuft alles rund, zumal ihr Chef dauernd mit neuen Projekten um die Ecke kommt, seit sie das erste so gut gemeistert hat. Weil es Spaß gemacht hat, auch wenn sie manchmal nicht nach 21 Uhr aus dem Büro kam. Das Ergebnis anzusehen ist so schön. Befriedigend in jeder Hinsicht, und alles besser, als mit zu großen Ambitionen das Unmögliche zu verlangen, um dann auf die Nase zu fallen. Zu jedem Projekt sagt sie ja, erarbeitet sich einen Ruf, dem sie gerecht werden kann, weil Projekte managen Spaß macht.
Huch, denkt sie. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich damals behaupten können, ich wollte Projektmanagerin werden. Dann hätte man wenigstens gedacht, ich hätte Ambitionen und nicht derart die Nase gerümpft.
Weil sie gerne gut isst, kocht sie ausgezeichnet, experimentiert gern.
Aber sie wollte nie Sterneköchin werden.
Sprachen liegen ihr, sie versteht sie mit dem Herzen.
Hatte aber nie Lust, Sprachkurse zu besuchen.
Sie versteht einiges von Psychologie.
Wollte aber nie Psychologin werden.
Sie hat nicht die beste Figur der Welt, ist aber nicht übergewichtig, weil sie nie eine Diät gemacht hat.
Modell zu werden hatte auch nie zu ihren Ambitionen gehört.
Weil sie gerne schreibt, kriegt sie es recht anständig hin.
Aber sie wollte nie Schriftstellerin werden.
Sie spielt leidenschaftlich gerne Tennis, immer schon, sogar als Kind.
Doch sie wollte nie Tennis-Profi werden.
Sie ist Optimistin, die manchmal nach Pessimistin klingt.
Wenn man sie fragt, wie es wird, sagt sie, es wird schon.
Sie kann anderthalb Stunden am Stück im Meer schwimmen, aber dass es genau anderthalb Stunden sind, weiß sie nur, weil der Traummann mal auf die Uhr guckte.
Nie käme sie auf die Idee, zu sagen: Heute schwimme ich anderthalb Stunden. Sie schwimmt einfach, am besten altdeutsch Rücken, eine Formulierung, bei der sie immer schrecklich lachen muss.
Aber sie schwimmt. Immer schon, und mit einem Lächeln im Gesicht, weil es ein Irrtum ist, zu glauben, dass man nirgendwo ankommt, wenn man kein Ziel hat. Die Dinge liegen überall herum, und sie hat schon genügend ambitionierte Menschen an ihnen vorbeirennen sehen.
„Halt!“, ruft sie und wedelt hektisch mit den Händen. „Da liegt der Typ rum, mit dem du glücklich werden könntest!“
Zu spät. Die Rennende entschwindet in einer Staubwolke aus ihrem Gesichtsfeld.
„Moment.“ Sie reißt den nächsten Marathonläufer am Arm herum. „Warum willst so unbedingt Weltklasseoboist werden? Du hast überhaupt kein Talent, und hier liegt…“
„Lass‘ mich los!“ Er kämpft sich frei und rast auf die Musikhochschule zu, in der er der zweitschlechteste Oboist der Gesamtgeschichte der Hochschule ist.
Ihre Schultern sinken hinab. Einen Moment ist sie betrübt, weil alle so schrecklich ambitioniert in ihr Unglück rennen.
„Na ja, nicht alle werden unglücklich“, stupst sie der Traummann an. „Manche von ihnen finden ihr Glück, in dem, was sie für ihr Leben geplant haben.“
Sie hakt sich ein. Gemeinsam schlendern sie dem Sonnenuntergang entgegen. „Aber ist dir schon mal aufgefallen“, seufzt sie, „dass alle wirklich erfolgreichen Menschen, die wir kennen, nur erfolgreich wurden, weil sie eine vage Idee aufgeklaubt haben, die ihnen irgendwo zugeflogen ist.“
Er nickt lächelnd.
"Und dass man das Leben überhaupt nicht planen kann, weil es stattfindet, während man dabei ist, Pläne zu machen?"
„Ja“, sagt er und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. „Aber niemand wird es hören wollen.“