Grüne Wälder, darin ein Tal, in dem sich zwei Flüsse kreuzen.
Einige Kurkliniken schmiegen sich unschön aneinander. Von der neurologischen bis zur orthopädischen Reha wird hier alles angeboten, und in einer dieser Kliniken rollt Lily mit ihrem Rollstuhl eben aus dem Zimmer. Der Rollstuhl ist keine neue Größe, vielmehr arbeitet sie seit achtzehn Jahren trotz des schweren Unfalls auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt und tut so, zumindest was die Arbeit betrifft, als hätte sie keine Behinderung.
Das ist stressig, insbesondere in orthopädischer Hinsicht, denn sie macht viel Sport, sitzt aber auch mehr und länger als ihre Kollegen.
So ist der Aufenthalt eine Art zwei-wöchiger Sporturlaub.
Zu mehr als zwei Wochen hat sie sich nicht durchringen können, und zu einer Kur, in der man nur meditiert und herum pimmelt, auch nicht.
Sie schwimmt gerne, so hatte sie sich eine Klinik mit ausgreifender Badelandschaft gewählt. Das konnte sie sich aussuchen, weil sie einen Wegeunfall hatte, und selbstredend ist sie sich des Privilegs bewusst.
Auf der anderen Seite kommen ihr die inflationär operierten künstlichen Hüften und Knie wie Geldmacherei vor. Sie denkt mitunter, sie ist die Einzige hier im Klinikum ohne frisch eingesetzte künstliche Hüfte oder künstlichem Knie.
An ihrem Tisch sitzt sie zwischen Knie und Hüfte.
Abends im Bett sinniert sie manchmal über die Frage, ob die Hüften und Knie eingesetzt werden, damit die Kur-Kliniken nicht Pleite gehen. Ob das Ganze eine Art Kette ist, in der ein Glied das andere bedingt. Bräche man eines heraus, stürzte das gesamte System zusammen, was aber womöglich eine Menge Geld sparen würde.
Aber Zusammenbruch macht Wiederaufbau erforderlich. Das fänden die Regierenden wahrscheinlich entsetzlich anstrengend. Deshalb halten sie lieber, die krakeelenden Lobbyisten im Rücken, am maroden Bestehenden fest.
Egal, sie kann es nicht ändern, also weg mit den Gedanken.
Sie kommt eben vom Schwimmen, hat in einer halben Stunde Lymphdrainage wegen ihres Impingement-Syndroms, und die Zeit lässt sich in den Tropen prima überbrücken.
Die Tropen sind ein glasumfasstes Areal mit Kaffeeautomat, in der Nähe des Eingangs zum Schwimmbad.
Warum eine Klinik, in der sich die Menschen überwiegend unter Zuhilfenahme von Krücken fortbewegen, nicht überall Türen hat, die sich von selbst öffnen, erschließt sich ihr nicht. Also dankt sie dem älteren Herrn, der ihr äußerst unfalllastig die Tür zu den Tropen aufhält, mit einem freundlichen Lächeln. Sie sucht sich einen Euro aus der Börse, schiebt ihn in den Schlitz und kurz darauf spukt der Automat einen Becher aus, in den sich röchelnd der Kaffee ergießt. Mit dem dampfenden Becher in der Hand sucht sie sich einen hübschen Platz mit Blick auf den Eingang zur Badelandschaft. Eine Sitzgelegenheit hat sie dabei. Zu irgendwas muss das ja gut sein, und wenn nur dazu, jedes Mal „Reise-nach-Jerusalem“ zu gewinnen.
Zufrieden nippt sie an ihrem Kaffee, wobei sie sich durchaus die Frage stellt, wie lange sie die Zufriedenheit aufrecht erhalten kann, denn was sie sieht, ist befremdlich.
Leute, die zum Schwimmen gehen.
So weit, so normal.
Wenn da nicht dieser Zettel klebte.
Dort am Eingang.
Das ist unter psychologischen Gesichtspunkten bestenfalls interessant.
Als sie den Becher halb leer getrunken hat, ist ihre Stirn schwer umdüstert. Sie macht ein kleines Geräusch, das ein bisschen nach Verachtung klingt, und weiß, dass sie teilen muss, was sie hier sieht. Am besten mit einem Menschen, der so ähnlich tickt, wie sie. Der Liebste scheidet aus, weil er sich im Dienst herum treibt, aber ihre engste Freundin wäre eine Idee. Soweit sie sich erinnert, hat die freitags frei.
Und ja, nach dreimaligen Klingeln geht Steffi dran. Sie begrüßen sich jauchzend, lachen ein wenig und Lilys grundsätzliche Enttäuschung über das, was sie hier beobachtet hat, wandelt sich in Ironie. Das ist leichter zu ertragen, auch, wenn es bedeutet, dass sie ihre Mitmenschen auslacht.
„Ich muss dir was erzählen“, sagt sie mit vor Lachen gespannten Mundwinkeln, „aber ich erklär dir vorher mal was, okay?“
„Okay?“
„Ich gucke hier gerade auf den Eingang zur Badelandschaft. Da ist an der Wand eine Vereinzelungsmaschiene. Weißt du, was ich meine?“
„So ein Drehkreuz?“
„Ja. Man muss sein Insassenarmband an einen Kasten halten, dann kann man hindurch.“
„Verstehe, aber wie kommst du mit dem Rolli...?“
„Daneben ist eine Art Schranke“, Lily fuchtelt erregt mit der anderen Hand in der Luft herum, „Also nicht so eine, die sich hebt, sondern ein Metallbügel. An dem ist eine Klingel und wenn ich den drücke, betätigt irgendwo jemand einen Summer und ich kann die Schranke aufdrücken.“
Steffi kichert. „Totale Überwachung.“
„Absolut, aber das ist es nicht.“
„Was ist es dann?“
„Der Vereinzelungsapparat ist defekt. Es klebt ein Zettel dran, auf dem steht Außer Betrieb. Die Schranke daneben ist weit offen. Keiner muss klingeln, jeder könnte durch. Rate mal, was hier passiert?“
Steffi hält kaum an sich vor lachen. „Ich kann es mir denken“, prustet sie, „Außer Betrieb. Magische Worte, die eine ganze Nation aufhalten. Es geht keiner durch?“
„Genau“, Lily linst zum Ort des Geschehens, wo sich drei ältere Damen im Badeanzug auf Krücken, das Handtuch unter die Achsel geklemmt, aufgeregt schnatternd darüber unterhalten, wen sie jetzt fragen, was sie machen sollen. Immer mehr Personen mit verwirrten Gesichtern gesellen sich dazu. Man gestikuliert, blickt ratlos, steht herum.
„Hier steht schon eine ganze Traube vor dem weit aufgesperrten Metallbügel und keiner geht durch.“
„Sind das alles Preußen?“
„Ich weiß es nicht“, Lily schiebt sich grinsend eine lange Ponysträhne aus der Stirn und weiß, dass das nur eine witzige Bemerkung sein soll. Steffi kommt aus Hannover, was auch nicht eben bekannt ist für Individualismus und Humor. Angeblich geht man dort zum Lachen in den Keller, aber Steffi ist die Ausnahme unter der Regel, und schlußendlich sind das alles nur Vorurteile, aber sie macht mit, indem sie hintan fügt: „Ein Rheinländer scheint nicht darunter zu sein. Oder halt! Doch!“
Da kommt ein Mittdreißiger angehumpelt, der schwer nach Sportverletzung aussieht. Mit gerunzelter Stirn und den Augen auf der debattierenden Gruppe geht er durch die offene Schranke. Er ist schon fast aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden, da ruft jemand nach ihm. Er humpelt zurück, schneidet ein fragendes Gesicht. Mit ausgreifenden Bewegungen des nicht durch die Krücke gebundenen Armes, erklärt ein älterer Mann mit verkniffener Miene, dass er da nicht einfach durchkönne.
Warum denn nicht, scheint er zu fragen, denn seine freie Hand fuchtelt zu dem Außer-Betrieb-Schild. Dann geht er einfach ins Schwimmbad. Lässt den ältlichen Mann stehen, dem die Entrüstung aus dem Gesicht springt. Eine Welle der Empörung gleitet durch den Pulk. Lily ist entsetzt, gibt ihre Beobachtung aber weiter.
„Unglaublich“, Steffi zischt, „Und jetzt? Wahrscheinlich hat jemand schon nach einem sogenannten Verantwortlichen geschickt.“
„Ja, da schlurft gerade ein Weißkittel heran.“
„Sag dem, er soll ein Schild neben das Außer-Betrieb-Schild hängen.“
„Ja, mache ich. Eines wo drauf steht, dass sie durch die offene Schranke gehen dürfen. Aber ehrlich, Maus, ist das nicht deprimierend?“
„Es ist furchtbar. Aber wir haben Geschichte studiert. Merkste was?“
„Ja“, seufzt Lily, „dass sich nichts ändert. Aber wenn wir Psychologen wären, könnten wir herausfinden, warum das so ist.“