18.3.2020 19:10 Uhr bis 19:50 Uhr
"Sie reden immer einen Unsinn", Lily wendet sich resigniert von der Parfumeriefachverkäuferin ab und ihrer Mutter zu, die 68-jährig mit wissender Miene daneben steht und von Lily präsentiert wird, "Sehen Sie sich meine Mutter an! Sie raucht 16 Jahre länger als ich und hat keine einzige Oberlippenfalte", genervt rollt sie die Augen, ehe sie weiter spitzt, "und das war überhaupt nicht meine Frage. Ich suche keine Oberlippenfaltencreme. Ich suche diesen verhexten Lippenstift!"
Sie schwirrt herum und rauscht aus dem Geschäft, dicht gefolgt von Mama, die sie draußen einholt und schief lächelt. "Immer?"
Lilys Kopf fliegt herum. "Was?"
"Sie reden immer einen Unsinn hast du gesagt."
"Ja, tut sie auch. Total unqualifiziertes Gesülze. Oberlippenfalten vom Rauchen. Möglich, aber die bricht immer alles runter auf den einfachsten Nenner. Und kommt mit dieser Kack-Creme um die Ecke, nur weil sie den Lippenstift nicht haben", suchend schweifen ihre Augen über die Einkaufsstraße und orten die nächste Parfümerie, "Lass' uns da mal hin."
Zielstrebig steuern sie den Laden an und werden von einer Duftwolke umhüllt, die Lily kurz keuchen lässt. Mit gespielt verzweifelter Miene fächelt sie sich Luft zu. Und da kommt auch schon die Marmormaske auf sie zu und lächelt routiniert unaufrichtig. "Kann ich Ihnen helfen?"
"Ja", Lily schiebt sich eine rote Haarlocke aus der Stirn, die sofort wieder zurückfällt und ihre Nase kitzelt.
Nase, die Arme, geplagt und gepeinigt. "Ich suche einen Lippenstift der Firma CXX. Farbe ist erst mal egal. Es geht um das Tubenkonzept."
Die gebotoxte Stirn der Marmormiene möchte sich angestrengt in Falten legen. Sie ächzt schon, bekommt es aber nicht hin. "Hm, das tut mir leid. Die Firma CXX stellt dieses Konzept nicht mehr her."
"Das sagte ihre Konkurrenz bereits", spitzt sie, "Ich kann das nicht glauben."
Kurz gerät die Maske ins Wanken. "Vielleicht darf ich Ihnen den Nachfolger vorstellen", sie zieht ein Muster aus der Präsentation, "die Farben..."
"Nein."
Die gespritzte Stirn möchte verzweifelt die Brauen hochziehen und bewegen sich im Milimeter -Bereich nach oben. Nein, es sind Mü. Keine Millimeter. "Aber..."
"Nein. das Schöne an den Tubes war, dass sich die Farbe gleichmäßig abnutzt. Man sieht nie halb geschminkt oder verwaschen aus. So muss man nicht halbstündig in den Spiegel gucken und an sich herum pinseln."
Oh, Lily ist sich des kränkenden Beigeschmacks ihrer Worte durchaus bewusst, aber sie hat schon lange keine Lust mehr. Seit Stunden rasen sie durch die Stadt, um diesen einen Lippenstift zu kaufen und überall derselbe Mist. Die Haarsträhne kitzelt. Wütend fegt sie sich zurück.
Nach Austausch höflicher Floskeln düst sie wieder voraus. Wenigstens wurde hier nicht versucht, ihr irgendeinen Mist anzudrehen. "Wollen wir Kaffeetrinken?", ihr Lächeln ist nahezu entschuldigend. Ihre Mutter latscht schon die ganze Zeit geduldig neben ihr her, "Tut mir leid."
"Ach", ihre Mutter winkt strahlend ab, "ich kenne dich seit 37 Jahren. Du wolltest immer schon karierte Gänseblümchen."
"Meist habe ich sie ja auch gekriegt", lacht sie.
"Und warst deiner Zeit meist ein Jahr voraus."
"Ja, aber hier hinke ich hinterher. Ich will was Abgeschafftes."
Kichernd wie die Teenager schlendern sie auf das Cafe am Ende der Straße zu.
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Am Abend googelt sie den Hersteller, findet eine Website und bestellt den Lippenstift sechs Mal.