Solveig
„Was? Nein! Warte, ich rufe dich gleich zurück. Mein Vater hat wieder irgendeinen Unsinn gemacht. Ich muss da mal anrufen.“
Sie drückt das Gespräch weg, liest die kurze Mail des Seniorenhilfedienstes, den sie in vielfacher Hinsicht für ihren an Alzheimer erkrankten Vater in Anspruch nimmt. Einkaufen, gemeinsam kochen, aufräumen und – jetzt neu- Gedächtnistraining.
Sehr geehrt Frau Joanson,
leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater Herrn Weber, der zum Gedächtnistraining kommen sollte, wieder weggeschickt hat.
Genervt klappt Solveig den Laptop zu, schnappt sich das Telefon, um irgendwie zu eruieren, was da wieder vorgefallen war.
Alles ist möglich. Er könnte vergessen haben, dass es diesen Termin gibt, das wäre sogar äußerst wahrscheinlich.
„Joanson“, meldet sich ihr Vater.
„Papa, warum hast du den Mann weggeschickt?“
„Welchen Mann?“
„Der das Gedächtnistraining mit dir machen soll!“
„Ach so, also das war so…
Zehn Minuten später ruft sie die Leiterin des Unternehmens an.
„Ja, Solveig Joanson. Ich habe das geklärt. Mein Vater hät Herrn Weber für inkompetent. Er hat…“
„Was? Also, das ist doch…“ Die Leiterin Dienstes entrüstet sich, doch Solveig grätscht ihr dazwischen. „Herr Weber hatte sich verlaufen.“
„Bitte?“, naserümpft die Dame.
„Der Mann, der das Gedächtnistraining mit meinem Vater machen sollte, war bereits zwanzig Minuten zu spät, weil er das Haus nicht fand. Er rief meinen Vater an, um zu fragen, wie er zu der Adresse findet. Ich bitte sie! Es ist eine normale Straße mit freistehenden Einfamilienhäusern! Selbst nach der Erklärung dauerte es weitere zwanzig Minuten, bis er da war. Danach setzte er sich mit meinem Vater an einen Tisch und packte ein Tier-Memory aus! Bis dahin war ihm die Jacke vom Garderobenhaken gefallen, er war gegen einen Dielenschrank gelaufen, was eine Dekorvase zum Umstürzen brachte, und den Kaffee hat er vor Nervosität oder Ungeschicklichkeit auch vergossen. Mein Vater spielt kein Tier-Memory mit einem Mann, der eine simple Adresse nicht findet, und an seinem Tisch Absenzen erleidet. Papa hat zwei Doktortitel in Mathematik und Physik und heute einen verdammt guten Tag!“
„Dann kann Herr Weber ja mit ihm einkaufen gehen.“
„Nein.“ Solveig wischt sich den Schweiß von der Stirn und schiebt die Krankenblätter ihrer Patienten hin und her. „Mein Vater würde das Gefühl haben, Herrn Weber beim Einkaufen helfen zu müssen. Das wäre wegen seiner Krankheit purer Stress für ihn.“
„Wollen Sie dann kein Gedächtnistraining mehr?“
„Doch.“ Solveig seufzt. Sie schließt die müden Augen, weiß um das anachronistische, was sie sagen wird. Aber er ist ein alter Mann, ein alter weißer noch dazu, und an seinem Weltbild wird niemand mehr etwas ändern. „Aber schicken Sie das nächste Mal eine Frau.