22:07 Uhr bis 23:04 Uhr
(Die kursiv geschriebenen Worte sind Textzeilen aus Songs)
Sommer 1987 in Köln
Ich komme vom Shoppen zurück, in der einen Hand die große Tasche vom Studio 59, in der anderen den Haustürschlüssel, als ich irgendwelche Werbung aus dem Briefkasten rupfe und dabei eine Postkarte auf den blanken Steinboden des Treppenhauses segelt.
Da liegt sie mit dem Motiv zum Boden und ich erkenne die Schrift nicht. Ohne irgendetwas zu denken, klaube ich sie auf, lese ein paar leere Phrasen nach dem Motto Wetter gut, Stimmung blendend.
Überraschend groß, die Buchstabenbögen, erschreckend demonstrativ, aber darunter kaum leserliches Gekrakel, das ich im schummrigen Licht kaum zu entziffern vermag.
Das Motiv sagt mir gar nichts.
Irgendeine Landschaft an einem beliebigen Ort, an dem es heiß aussieht.
Eine Karte von irgendwo.
Ich sprinte dynamisch die Stufen hinauf, schließe die Wohnungstür auf, umschlängele die zur Begrüßung angetretenen Katzen, werfe die Tüte von mir und suche die hellste Stelle am Wohnzimmerfenster auf.
Im hereinströmenden Sonnenlicht eines heißen August lese ich: Pass abgenommen, wollen mich verheiraten. Mehmet Bescheid geben. Gruß Nuray.
Ach du scheiße.
Rückwärts taste ich mich in den schwarzen Ledersessel an der Wand des elterlichen Wohnzimmers. Die Karte in der Hand tritt mir der Schweiß auf die Stirn.
Warum?
So viele Warums.
Ich hätte nie gedacht, dass ihre Familie so abgedreht ist. Sie und ihr Bruder Mehmet schreiten wie ich als extrem aufgedonnerte New Waves durchs junge Leben. Die Typen, die an der Warteschlange vorbei, sachtes Kopfnicken zum Gruße an die Türsteher, einfach hinein gehen.
Warum ich?
Wir sind Freundinnen, ja, aber weder die engsten noch die besten.
Gerade eben ein Stück mehr als Bekannte.
Und jetzt?
Du lieber Himmel.
Ich streife mir die flachen spitzen Schuhe von den Füßen und rausche in mein Zimmer, wo ich wie eine Verrückte nach Mehmets Telefonnummer suche. Als ich sie endlich gefunden habe, rase ich in die Diele zum Telefon und tippe wie verrückt.
Warte.
Lausche dem Freizeichen.
Warte.
Wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Nichts.
Mir fallen auf Anhieb zwei Personen ein, die ich fragen könnte, und wähle die erste Nummer aus dem Kopf.
„Weber?“
„Ja, Hallo Frau Weber, Christiane hier. Ist Richard da?“
„Moment.“
Ich höre ihre Schritte sich entfernen, dann schlurfende Schritte näher kommen.
„Hi, Süße“,seine Stimme klingt belustigt, wie immer, aber der latente Schalk in der Stimme verpufft im Tonfall meiner Dringlichkeit, in dem ich nach Mehmet frage. Schließlich waren die beiden mal zusammen. Wenn auch kurz. Oder gar nicht richtig. Aber insgesamt ein Fakt, aus dem Mehmet für seine Familie ohnehin verbrannt ist. Kurz kommt der bekloppte Gedanke angehuscht, dass sie gerade deswegen ihr anderes Kind eben noch "retten wollen".
Ihm deshalb die Freiheit rauben.
Aber so viel ich weiß, ist es ein deutscher Pass, den sie ihr abgenommen haben.
Und volljährig ist sie auch.
„Ne, keine Ahnung wo er steckt.“
„Okay“, rede ich ziemlich schnell, „Ruf an, wer dir einfällt. Irgendwer soll ihm sagen, dass ich dringend mit ihm reden muss. Ich bin heute Abend im Saal.“
„Was ist denn...“
Ich habe längst aufgelegt.
Wähle die zweite Nummer und erreiche niemanden.
Den ganzen Tag kann ich nicht aufhören, daran zu denken, und als ich mich am Abend aufbrezetzele, das lange dichte Haar zu einem komplizierten Konstrukt auftürme, das ich mit silbernen Pseudoperlen bestücke, mich in einen fessellangen, knallengen schwarzen Lederrock zwänge, in dem ich mich spitz beschuht nur trippelnd fortbewegen kann, der schwarze, schulterfreie Langarm-Body wie eine zweite Haut an mir klebt, das Gesicht schminke, eine Nuance bleicher als es in Wahrheit ist, die Augen schwarz umrande, läuft im Hintergrund laut und eindringlich The Top von The Cure.
I don’t Care
If only I Can say that
And not feel so sick an scared.
In der Gleichgültigkeit gegenüber der Probleme anderer war ich nie sonderlich brillant.
I don’t care
Ich male meine Lippen dunkelrot.
If only I Can say that
Das ist allgemein bekannt.
If only my eyes
Die geilsten Typen heulen sich bei mir aus, wenn sie von den größten Schlampen verarscht werden.
could closed
Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem sie mir, ausgerechnet mir geschrieben hat.
Es ist schon dunkel, als ich am Bahnhof ankomme. Die Schlange der Einlassbegehrenden reicht bereits bis zum Bahnhofsvorplatz. Aus den weit offenen Türen dröhnt Relax.
Genau, entspann dich und lass die Augen schweifen. Da vorne steht das Grüppchen um Erik und Jörg. Die Depesche Mode-Fraktion. Ich winke. Erik winkt energetisch zurück, weil er das nicht so richtig drauf hat mit der Finsternis und der arroganten Coolness, aber momentan ist die Show sowieso irrelevant. Wo stecken die Existentialisten, mit denen Mehmet immer abhängt?
Lieber Himmel.
Relax.
Alles schwarz, alles grau, überall nur aufgetürmte Männer und Frauenhaare und ich wünschte wirklich mal, wenigstens Mehmet würde sich neonpink anziehen, aber aus dem Eingang kommt, mit verträumter Miene Cornelius, die halb abgerauchte Zigarette im Mundwinkel.
Relax ist zu einem Ende gekommen.
Neue Bässe dröhnen.
Through these city nightmares you'd walk with me
Er sieht hoch, schiebt sich eine schwarze Haarlocke aus der Stirn. Im ausrasierten Seitenhaar entdecke ich irgendein bizarres Muster, das Jahrzehnte später als Tribles tätowiert werden wird.
Er hebt eine Hand. Wir gehen uns entgegen.
And we'd talk of it with idealistic assurance
Wir begrüßen uns mit diesen gehauchten Küssen, die weder seine Frisur noch mein Make-Up derangieren
„Du suchst Mehmet“, redet er etwas lauter über Anne Clarks Gesang hinweg und zuckt mit der Zigarette zum Eingang, „an der Bar.“
That it wouldn't tear us apart
„Okay, danke.“
Ich stürze hinein und kämpfe mich durch die wogende Masse schwitzender, tanzender Leiber.
Nur dankbar, dass die meisten oben auf der über eine Stufe zu erreichenden Plattform tanzen.
We'd keep our heads above the blackened water
Hier und da hebe ich die Hand zum Gruß.
Da vorne steht er. Endlich! Gerade nimmt er ein Kölsch in Empfang. Ich schubse mich durch, jemand rempelt gegen ihn. Ein Typ mit gegeltem Haar mit einer Miene, die ausdrückt, dass er sein Glück kaum fassen kann, hier reingelassen worden zu sein. Er entschuldigt sich bei mir. Ich fühle seine Augen noch in meinem Rücken, als ich mich zu Mehmet beuge und über Our Darkness hinweg schreie, was auf der Karte steht, die ich ihm hinhalte. Ich sehe alle Farbe aus seinem Gesicht weichen.
Und Wut.
Die schwarzen, von langen Wimpern umrahmten Augen füllen sich gleichzeitig mit Tränen und mit Zorn. Er lässt mich stehen. Rücksichtslos schiebt er sich durch die Menge nach draußen
Was er wann wie genau getan hatte, erfuhr ich erst, als alles vorbei war.
Wichtig ist nur, dass es gereicht hat.
Dass sie zurückkam.
Frei und unverheiratet.