https://de.wikipedia.org/wiki/Phineas_Gage
Das Schlimme ist, es merkt keiner.
Nelly sitzt da, wo sie wöchentlich einmal sitzen soll. In diesem heimelig eingerichteten Zimmer ohne Couch, weil die Couch in einer psychotherapeutischen Praxis ein Vorurteil ist.
In einem gemütlichen Sessel dieser Frau gegenüber, die keine Ahnung von nichts hat.
Die sondert die üblichen therapeutischen Phrasen ab, die in dem stillen dunklen Raum hängen und Nelly nur noch wütender machen, denn Wut ist ihr eigentliches Problem. Das, mit dem sie verhaltenstherapeutisch umgehen soll, aber so what?
Sie ist es leid, immer so zu tun, als litte sie unter all dem, was ihr schon alles diagnostiziert wurde.
Depressionen?
Hatte sie nie gehabt.
Burn-out?
Auch das nicht
Generalisierte Angststörung?
Das auch nicht.
Aber all das wird therapiert, weil die es besser zu wissen glauben, und man es einfach nicht merkt.
Dorsolateral würde man es bemerken, aber orbitolateral?
Man kann nichts machen!, möchte sie schreien.
Stattdessen nimmt sie ihre Tasche, rauscht kommentarlos aus dem Raum, mit dem irritierten Blick der Trulla im Rücken, und schnappt draußen erst einmal heftig nach Luft. Die Sonne umhüllt sie warm, was sie ein wenig erdet, sodass sie beschließt, spazieren zu gehen. Bis sie unten am Rhein ist, sind ihre Gedanken ein einziges Durcheinander, das sie schließlich, auf einer Mauer sitzend, zu ordnen versucht.
Das Durcheinander im Kopf ist das größte Problem.
Und dass man es nicht merkt.
Wenn man es merken würde, wüsste zumindest ein Therapeut, dass sie nur so, wie sie ist, geliebt werden will.
Dass sie sich abstrampelt damit, alle Eindrücke und das Verhalten der anderen angemessen zu beurteilen, und vor allem damit, angemessen zu reagieren.
Seufzend kramt sie sich eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie an. Der Rauch verdichtet den Schleier, den sie zwischen sich und der Welt stets empfindet, und sie fragt sich, ob Phineas es gemerkt hatte.
Phineas.
Das, was mit ihm los war, nachdem ihm bei einer Sprengung eine Eisenstange durch den Kopf gefahren war. Und er einfach nach Hause ging, wo man panisch einen Arzt rief. Und er nach einer Weile einfach wieder weiter arbeitete, als wäre nichts geschehen, nur klappte danach irgendwie nichts mehr.
Wenigstens, denkt sie mit Blick auf auf die vorbeifahrenden Schiffe, klappt bei mir das meiste. Das wichtigste. Familie und Freunde.
Aber wenn sie ehrlich ist, sind es dieselben, die sie vor ihrem Pendant zu Phineas' Eisenstange hatte. Vor dem Unfall, bei dem sie den Asphalt frontal geküsst hatte. Aber alles, was neu ist, jeder, der neu ist, verursacht ihr mit der Zeit Schwierigkeiten, weil er oder sie etwas Dummes sagte, das sie seit der Eisenstange nicht mehr ignorieren kann.
Sie kann Dummheit nicht mehr ignorieren.
Weshalb sie sich überall auf die wildesten Diskussionen einlässt, die sie überhaupt nicht will. Alles, was sie will, ist......
Ja, was?
Sie drückt die Zigarette in ihrem Taschenaschenbecher aus.
Das Problem ist, dass sie weiß, was los ist.
Das Problem ist, dass niemand damit gerechnet hatte, was das MRT schließlich aussagte.
Wie sie da lag.....
dengelnd und scheppernd, das MRT-Gerät. Toktoktok.
Sie liegt da und denkt gar nichts, bis der Lärm jäh verebbt und eilende Schritte herannahen.
Sie hebt genervt eine Braue.
"Der Doktor fragt, ob sie mal nen Unfall hatten."
Sie zuckt, auf dem Rücken in der Röhre liegend, auf ihre vernarbten Beine.
"Nach was sieht das denn aus?" (Genau das ist es, was sie mit Dummheit meint)
"Nein, nein, mit dem Kopf."
"Ja", presst sie heraus. Sie will ja nicht um jeden Preis so zu tun, als wäre nichts geschehen. Die Schritte enteilen, das Gerät lärmt weiter und sie fragt sich danach, warum der Radiologe sie so verblödet anstarrt. Weil sie mit dem eigenen Auto gekommen ist, und einer qualifizierten Arbeit nachgeht, zu der sie nach dem Termin auch sofort wieder fährt.
Der Wind weht rotgoldenes Laub in ihre Richtung und sie scharrt ein bisschen mit den Füßen darin. Als sie den Blick hebt, sind da nur Radfahrer und Spaziergänger mit Hund.
"Unglaublich", ihr Neurologe beguckt das MRT-Bild auf dem PC.
Sie rückt näher, sieht ihm über die Schulter. "Was?"
"Die weißen Bereiche", er deutet mit dem Kugelschreiber auf den größten Teil ihres frontalen Hirns, "die sind alle tot."
Sie stöhnt gereizt. "Na, und?"
Er schwingt mit seinem Stuhl zu ihr hin und sieht sie an wie ein ausgefallenes Insekt. "Eigentlich dürften sie nicht so sein, wie sie sind."
Rückwärts plumpst sie in den Besucherstuhl.
"Das heißt, ich müsste so eine Art Gurke sein, oder wie meinen Sie das?"
"Nun ja. Das Gehirn ist der am wenigstens erforschte Teil unseres Körpers. Überraschungen sind immer drin. Vor dem Unfall wurde Hochbegabung festgestellt?"
"Ja, und? Und deshalb bin ich jetzt normal", sie macht Anführungszeichen in der Luft, " und wäre Gemüse, wenn ich vorher normal gewesen wäre?". sie kramt sich ein Tempo aus der Taschen, weil ihr nach Weinen zumute ist, "Ich komme mir aber gar nicht normal vor. Die regen mich alle immer so furchtbar auf."
"Aber solange sie keine Probleme haben...."
"Aber ich habe Probleme", begehrt sie auf, "riesige Probleme. Die Menschen stressen mich. Nie versteht mich irgendjemand richtig. Ich schwimme herum und ärgere mich den ganzen Tag. Darüber, dass sie die Kurklinik von 22 bis 6 Uhr abriegeln. Darüber diskutiere ich eine Stunde mit dem Leiter des Haues, weil so was gar nicht geht. Brandschutz, Freiheitsberaubung, und all so was", sie fuchtelt erregt mit der Hand in der Luft herum, "Auf der Arbeit, meine Güte. Dieser unterbelichtete Chef, der sich nicht mal Mühe macht, in das Gesetz zu gucken, das er bearbeiten soll. Ich kann dann nicht immer so tun, als würde es mich nicht stören."
Er saugt tief Luft in die Lunge, behält sie einen Moment, ehe er lange ausatmet. "In der Sache haben sie ja immer recht, Frau Bracco."
"Aber ich kann es nicht gut sein lassen. Ich habe einen Puls von 110 und erhöhten Blutdruck. Schlafstörungen. Ich muss das diskutieren. Es macht mich wahnsinnig, in der Sache immer recht zu haben, sich die Welt aber nicht ändert."
Er schnauft, lächelt sie nett, nein fast schon liebevoll an, und greift nach einem Rezeptblock. "Vielleicht sollten sie noch einmal eine Therapie versuchen."
Resigniert sinkt sie in den Stuhl zurück.
Schon wieder?
Der letzte Therapeut hatte ja nicht einmal gemerkt, dass ihre Problem neurologisch sind, und damit nicht zu ändern.
Da wusste sie es ja selbst noch nicht, und hatte alles gemacht, was er ihr riet, was in der Folge zu noch größeren Schwierigkeiten geführt hatte.
Dem müsste man m Grunde die Zulassung entziehen. Aber sie nimmt das Rezept und verlässt die Praxis.
Geht zu der Frau in dem Ohrensessel, hört sich deren Gesülze an, bis sie hier landet.
Am Rhein, in der Herbstsonne, zwischen golden schimmernden Bäumen und einem Gefühl des absoluten Verlorenseins. Verloren, weil sie scheint, wie die anderen, und doch anders ist. Sich kaum zurechtfindet in der Art, wie alle miteinander umgehen. Dieser Ton. Diese Gleichgültigkeit. Diese Dummheit.
Es ist sinnvoller, die Existentialisten zu lesen, als zu einem Therapeuten zu gehen.
Oder aber, sie versucht einfach mal, dumm zu sein. Auf diese normale Art, die wenig mit erlernter Kenntnis zu tun hat, aber viel mit Gleichgültigkeit, denn mitunter ist das hilfreich. Es hilft, nicht alles zu begreifen.
Sie stemmt sich hoch und rückt ihre Jacke zurecht.
Phineas.
Du hast wenigstens nicht gewusst, was mit dir los war.
Du musst glücklicher gewesen sein.