"In der Sonne ist es noch richtig warm". sagt Nola halblaut und lehnt sich in den Korbstuhl der Außengastro zurück. In die Sonne blinzeln muss sie nicht, auf der Nase klebt die Sonnenbrille, die sie Zuhause wegen des Dauergraus schon eingemottet hatte. Aber hier…
Sebastian stößt einen Laut der Zufriedenheit aus und nippt an seinem Bier, wie sie, gefangen im Augenblick des Seins, im Moment des fraglosen Existierens.
Dabei ist fraglos nichts, das ihrem Naturell entspricht.
Sie war das Kind, das fragt.
Warum spießt man ein Ferkel über Feuer auf und isst es, Mama?
Warum quälen Menschen Tiere, Papa?
Warum geht es nicht allen gut?
Sie ist die Frau die fragt.
Warum gehört zum Menschsein das Boshafte?
Warum haben die Siegermächte nach dem ersten Weltkrieg die Grenzlinien im arabischen Raum mit dem Lineal gezogen? Durch alle Volksgruppen gnadenlos hindurch, sie getrennt und zwangsumgesiedelt. Das begreift doch ein Toter, dass das nur Unfrieden geben wird, damals, jetzt und auf immer!
Endlose Fragen, die sich mit jedem neuen Wissen auftun.
Oft sind die Antworten unerträglich, aber es geht schon besser. Sie hat gelernt besser damit klarzukommen. Die Eisdecke, die sie als ganz junge Frau um sich gezogen hatte, ist schon lange gebrochen, aber als sie brach, tropfte es zuvor, denn es war das Feuer der Wut, das die Schicht aus verglasendem Eis zum Bersten brachte.
Was ist das für eine Welt, in die ich nicht gebeten habe, geboren zu werden?
Sie ist schon lange weg, die Decke aus Eis.
Eingetauscht gegen eine Lambswooldecke, die ziemlich gleichgültig aussieht. Teuer. Hedonistisch, vielleicht? Oberflächlich?
Es ist mir scheißegal, denkt sie und leert ihren Trentiner Sekt mit einem Zug. Dabei legt sie den Kopf in den Nacken, hat den Blick auf den Bergkuppen, die das Tal umschließen, schroff, karg, und ganz ohne Eis.
Keine Schneedecke mehr auf dieser Seite der Alpen, aber sie weiß grad nicht, ob das normal ist, also nichts mit dem Klimawandel zu tun hat.
Sie beschließt, das nachzulesen. Wissen um seiner selbst willen.
Es ist dir nie scheißegal gewesen, wispert es irgendwo ganz hinten in ihrem vermaledeiten Schädel. Und es wird dir nie egal sein.
Mit verkniffenem Mund dreht sie den Kopf zum Dom, der rücksichtslos nur simuliert, ein Gotteshaus zu sein, denn hier, in Trento, war dieses alte Ding meist nur scheinbar eine Kirche. Früh eine Festung, und das sieht man ihm an.
Sie lacht trocken auf. "Der Anbau der Kathedrale heißt schon Praetorio", murmelt sie belustigt.
Sie kneift die Augen zusammen, und schiebt die Sonnenbrille ins blonde Haar, taxiert den Eingang des Praetorio, als rechnete sie jeden Augenblick mit dem Herausmarsch einer scheppernden Prätorianergarde. Mit Helmbusch und Kurzschwert.
Liiiinks um!
Sie gluckst leise.
Das wäre genau das, was Kirche immer war.
Sebastian, der gerade bezahlt, wirft ihr einen halb fragenden, halb wissenden Blick zu. Zu gerne würde er am Grund ihres Grinsens teilhaben, denn letztlich ist Lachen das Weinen der Verzweifelten.
"Was war das noch, worüber wir heute morgen so gelacht haben?", hat sie auf dem Weg her, auf der Autobahn im Auto gefragt.
"Keine Ahnung." Er steuerte die Ausfahrt an. "Wir lachen doch immer so viel."
"Wollen wir es noch mal versuchen", fragt er jetzt, mit dem Kopf zur Kathedrale des Heiligen Vigilio zuckend. Dabei steht er schon, schiebt sich das Portmonee hinten in die Jeans. Lächelnd nickt sie und schraubt sich aus dem Stuhl. Es wäre doch verhext, wenn im Inneren noch immer alles voller Baugerüste stünde.
Hand in Hand schlendern sie zum Portal, das als einziges geöffnet auf der Rückseite des Doms liegt.
Auch irgendwie sinnbildlich, denkt sie genervt, ohne zu verstehen, warum sie überhaupt noch von irgendetwas genervt ist.
Innen steht natürlich alles voller Baugerüste, aber in diesem Jahr an anderer Stelle. So wie letztes Jahr an anderer Stelle, als im Jahr zuvor, so dass sie immer nur ein Stück des Inneren sehen, immer ein anderes, wie ein Puzzle, das man sich selbst zusammen basteln muss, was ja auch für sich spricht. Außer ihr sind wenige Touristen drin. Verschreckt vom Baulärm hinter einer Plane vorne am Altar huschen gerade die beiden anderen durch das Hauptportal hinaus. Durch das man nur rauskommt.
Man muss sich hinten reinzwängen und wird vorne ausgespuckt.
"Es wird Zeit, dass die Kirche restauriert wird", lacht sie, ohne diese konkrete zu meinen, in der gerade das im 16. Jahrhundert versucht wurde, zu verhindern.
Sebastian hört sie schon nicht mehr, wuselt an irgendeinem Fresko herum, das er eingehend studiert, als erwarte er, dass die darauf abgebildeten Personen zu ihm sprechen.
Nola steht verloren vor dem Holzgerüst voller leuchtender Teelichter, das seinerseits vor der Nische mit der goldbehangenen Madonna mit dem Kind positioniert ist. Keine Gebetsbank davor, die musste wohl den Baumaßnahmen gewichen sein.
Glauben, denkt sie, ist ja das Gegenteil von Wissen.
Und wenn man keine Antworten bekommt, soll glauben helfen?
Manchen Menschen schon, und das reicht ihr vollkommen, um zu akzeptieren. Es ist vollkommen in Ordnung.
Wer hilft, hat recht.
Wenn es nur nicht immer so viel Schaden anrichten würde, begehrt sie innerlich auf. Sie schließt die Augen, sieht sie herankommen, die Truppen, die unter Geheul, so außermenschlich, zum Angriff übergingen, als ginge es vom Teufel selbst und seiner dunkelsten Engel aus.
Erster Kreuzzug? Zweiter? Völlig egal, es waren nur die einfachen, ja, auch Einfältigen, die reinen Herzen glaubten, die Andersgläubigen wären die Bösen. Weil man es ihnen eingeredet hatte!
Den Fürsten selbst ging es um nicht weniger als Macht, um nichts anderes als Macht. Macht, Macht.
Man muss sie sich nur ansehen, diese abendländischen Räuber. Nur die Zweit und Drittgeborenen, die Bastardsöhne, die, die nichts zu erben hatten, und nichts zu gewinnen, aber das Kreuz auf den Wappenrock genäht. Zwei in bestimmter Art genähte Tuchstreifen, und vor ihnen taten sich Provinzen auf, wo die Legionen sonst jeden Schritt verbaten.
Adhemar Le Puy, Papstlegat und Feldherr - was sich gegenseitig ausschließen sollte - metzelt vor dem Zweischwesternturm Antiochias ganze Völker nieder. Ein Ausfall - St. Gilles, der Schlaflose, schlägt ihn zurück, verfolgt die Seldschuken bis ins offene Tor, fast bis hinein, aber ein Chaos entsteht. Scheuende Pferde stürzen, Wirrwarr entsteht, in den Yaghi Siyan seine Männer stoßen lässt.
Fast hätte Antiochia den Provencalen gehört, aber am Ende wird es doch Boemund gehören, dem Gottlosesten von allen. Wobei sich das schwerlich messen lässt. Wie sollte sich das messen lassen, wenn nicht am Maß der vorgetäuschten Scheinheiligkeit, und was das angeht, war gerade der harmlos. Er hatte das Massaker von Jerusalem nicht zu verantworten gehabt. Er war ja gar nicht mehr mitgegangen. In Antiochia geblieben, das Kreuz vom Wappenrock genommen.
Ritterorden? Auch so ein Widerspruch in sich.
Man sollte in Polen mal fragen, was sie dort vom Deutschen Orden halten.
Oder was eine vergewaltigte Frau über die Kirche denkt, die ihr, als Träger des Krankenhauses, die Pille danach verweigert.
Sie räuspert sich verstohlen, um ihr Inneres zum schweigen zu bringen. Sie sieht sich nach Sebastian um, der vor einem Beichtstuhl liegt, und die Intarsien der Stumpenbeine bewundert. Mit skeptisch gekraustem Näschen fragt sie sich, wie kalt es dort unten auf dem Boden war, ob er sich nicht erkälten würde, und nicht besser aufstünde.
Warum war es in Kirchen immer so kalt?
Sie schaudert. Wie sie ihn um diese kühle Distanz bewundert, die ihn das hier nur als Kunst und Geschichte betrachten lässt, ein Konstrukt der Vergangenheit, in der Menschen wenig Raum haben.
Einzelne.
Menschen.
Schicksale.
Ich selbst habe nie geglaubt, und das war kein Trotz oder keine Verleugnung, weil das, was im Zeichen der beiden Tuchstreifen geschah so gottlos war.
Sondern weil man glauben muss. Und glauben fällt mir doch so schwer.
Und doch?
Es gibt schönere Dome als diesen.
Selbst die Bahnhofkapelle in Köln ist schöner.
Der in Florenz beispiellos.
Der in Havelberg ziemlich hässlich, konstatiert sie naserümpfend die Erinnerung an eine Ziegelwand.
Und doch…
Giovanna hat damals vor jeder ihrer und Nolas Klausuren eine Kerze im Kölner Dom aufgestellt. Dafür ist sie auf dem Weg zur Schule sogar ausgestiegen, um den Dom aufzusuchen, das ganze Procedere eben.
Und doch…
Sie hatten verdammt gute Noten, damals.
Und doch…
Sie kramt nach ihrer Geldbörse, stopft einen Euro in den dafür vorgesehenen Schlitz, und verbringt die nächsten Minuten damit, vor Schmerz zischend das Teelicht mit dem eingedrückten Docht vermittels ihres Feuerzeuges anzuzünden.
"Ach, scheiße", schimpft sie, schüttelt die Hand, das Teelicht in der Linken, als ihr Sebastian das Ding, schief grinsend, abnimmt. Vorne, aus einem Schlitz in der Bank mit den Kerzen, nimmt er ein schmales weißes Kerzlein, das er an einem brennenden Teelicht anzündet, um damit ihr Teelicht anzuzünden.
So geht das, drückt die Miene des vor 20 Jahren ausgetretenen Zweiflers aus.
"Ich bin in einem Atheistenhaushalt aufgewachsen", zischt sie leise, schmiegt sich aber dankbar kurz an ihn, ehe sie ihm das Licht abnimmt und neben die anderen stellt.
Sie betet nicht, weil sie gar nicht weiß, wie das geht.
Aber sie fühlt.
Jenseits der Eisdecke, wie sie immer gefühlt hat.
Sie fühlt.
Was näher an jedes Gebet herankommt, als Worte es je vermögen.