Zu Körperkunst fallen mir zuerst Tätowierungen ein. Ich habe eine Vorliebe für Tattoos, habe aber selbst keine. Ich hatte lange nicht die richtige Stelle auf meinem Körper gefunden, und als ich sie gefunden hatte, bekam ich Angst.
Nicht die übliche Angst vor dem Stechen.
Infolge eines Unfalls bin ich doppelt oberschenkelamputiert. Verdammt gerne sähe ich Körperkunst auf den Oberschenkelstümpfen, was im Bikini, am Strand wirklich cool wäre, aber gerade da – lieber Himmel, ich hatte da mal einen Wespenstich, der mir vier Wochen Nervenschmerzen bescherte.
Damit war das Thema dann gestorben, ich habe eine andere Stelle gefunden, die noch immer nicht tätowiert ist.
Trotzdem.
An einer amputierten Sportlerin sah ich mal extrem bemalte Prothesen. Ich dachte: Okay, sieht cool aus, aber Tattoos auf den Stümpfen wären schicker.
… siehe Wespenstich.
Natürlich könnte auch ich meine Prothesen bemalen lassen, doch die stehen seit Jahren auf dem Dachboden, wo sie von niemandem betrachtet werden können, denn irgendwann habe ich aufgehört, mich mit den Dingern zu quälen.
Das Leben ohne Prothesen ist ein deutlich Schöneres, womit der Übergang von Körperkunst zu Körperkult fließend ist.
Denn warum sollte man das tun?
Warum sollte man Prothesen tragen?
Insbesondere wenn der rein praktische Aspekt obsolet ist, da es weder die Stumpfverhältnisse noch die unfallbedingte Länge der Stümpfe je zugelassen hätten, vernünftig mit den Dingern zu gehen?
Damit man intakt aussieht?
Für wen?
Die Gesellschaft?
Es ist doch Jacke wie Hose – ob mit oder ohne – die Leute glotzen sowieso.
Und doch ist man so schwach, charakterlich dürftig, wenn einem der Unfall gerade widerfahren ist, man da liegt, und zwischen den OPs die Prothesen ans Ohr gelabert bekommt, als wären sie die Heilsbringer.
Non-Plus-Ultra, mit deren Hilfe man vorgeben könne, überhaupt nicht behindert zu sein.
Äh, behindert ist hier das falsche Wort.
Man kann vorgeben, intakt zu sein.
Man wehrt sich lange nicht gegen die gesellschaftliche Erwartung, dass man sich auf die Stelzen stellt und durchs Leben wackelt. Insbesondere weil Sportler mit entsprechendem Handicap suggerieren, es wäre so einfach.
Als könnte man sich drauf stellen und los rennen.
Nein, man wuchtet sich drauf und torkelt los.
Ich habe es immer gehasst. Nicht so sehr, weil es anstrengend und schmerzhaft war, vielmehr, weil darauf zu laufen absolut nichts mit mir zu tun hat.
Ich verlor sie gerne im Sommer, weil sie damals noch vermittels eines Vakuums an den Stümpfen hielten, das sich in Luft auflöste, wenn man schwitzte. Und man schwitzt darin - es fühlt sich an, als hätte man bei 35 Grad Außentemperatur beide Beine eingegipst.
Lustig war es dennoch.
Man schwankt so seines Weges und verliert ein Bein.
Huch!
Lustig war es an den Stellen, an denen ich, im langen Leinenrock, aufs Auto zu stakste, auf den Fahrersitz sank und bei weithin offener Autotür, und offenem Cabrioverdeck, die Beine nacheinander abnahm, um sie auf der Rückbank zu deponieren.
Endlich frei.
Dumme Passantengesichter mit inbegriffen.
Ich hörte mit 35 zu laufen auf. Die sechs Jahre reichten mir vollends, ich hatte die Faxen dicke, und wollte wieder ich selbst sein.
Vor dem Unfall war ich die Frau, die mal eben rasch wohin düste. Ich war die Frau, die mit dem Körper sprach. Dynamisch, spontan bis hin zu impulsiv. Niemand redet allein mit dem Mund – um einen Menschen vollends zu erfassen, muss man ihn als Ganzes sehen. Seine Gesten, sein Habitus.
Und ja, seit die Dinger, unbemalt, auf dem Dachboden stehen, habe ich zu mir zurückgefunden.
Übrigens habe ich nie aufgehört, mich für eine attraktive Frau zu halten.
Attraktivität macht sich nicht an der Erwartung einer Gesellschaft fest.
So wenig wie deine und meine Talente an der Vorstellungskraft anderer enden.
Keine Beine zu haben, ist mitunter lästig, weil unpraktisch, aber eben nicht entstellend.
Und oft witzig. Man kann Dinge anstellen, die andere verwirren, beispielsweise im Stau auf der Autobahn, denn bedenke: Vom Nebenfahrzeug aus sieht man mich durchs Fenster nur ab Taille aufwärts.
Ich drehe mich komplett zur Seite und schaue aus dem Fenster auf die vierköpfige Familie im 3er BMW neben uns vor dem Elbtunnel.
"Guck mal", sage ich leise zum Liebsten. "Wie die gucken."
Er sieht hin und grinst. "Sie überlegen sichtbar, wie du so da sitzen kannst."
"Hm", flüstere ich. "Dann pass mal auf."
Ich drehe mich komplett um. Sitze falsch herum auf dem Beifahrersitz, das Kinn neben der Kopfstütze schaue ich aus dem Rückfenster.
"Wie gucken sie jetzt?", wispere ich.
"Sie fangen zu diskutieren an."
"Okay, pass auf." Ich sinke vollständig in den Fußraum.
Stau-Bespaßung - jedenfalls bei uns, und durchaus Körperkunst zu nennen.
Mein gestörtes Verhältnis zu Psychotherapeuten beginnt an dem Tag, an dem die ungebeten an meinem Krankenhausbett stehende Trulla jenes Berufs die Frage stellte, ob ich denn keine Angst hätte, dass mein Mann mich verließe.
„Der ist noch nicht mein Mann“, blinzele ich verwirrt. „Das kommt noch.“
„Aber…“ (Es folgt ein Sermon über Körperlichkeit, Attraktivität und darüber, dass ich noch jung wäre (29) und bestimmt, aber ganz gewiss doch jetzt immensen Schwierigkeiten mit meiner Selbstwahrnehmung hätte.
„Äh, nein? Habe ich nicht.“
Weil sie nicht aufhören konnte, mir Probleme einzureden, die ich nicht habe, aber keinerlei Interesse an denen hatte, die mich tatsächlich umtrieben, warf ich sie aus dem Zimmer. Weil sie immer wieder kam, pfefferte ich eine volle Kaffeetasse als Argumentationsverstärkung hinterher.
Ich habe diese Tasse später von Antonella werfen lassen – einem fiktiven Charakter meiner Krimiserie. Die Ermittlerin, der ich beide Beine gelassen habe, damit sie im Polizeidienst bleiben kann. Wie man eigene Erfahrungen eben mit fiktiven Geschichten verwebt.
Die Psychotherapeuten?
Sagen wir es so: Ich verstehe einiges von Psychologie, und wenn es keinen NC gäbe, hätte ich nach meiner vorzeitigen Pensionierung ein entsprechendes Studium angefangen. Es ist gut, dass ich es nicht tat, nur um zu beweisen, dass ich es kann, denn ich wäre eine verteufelt schlecht Therapeutin geworden, weil mir schlicht die Geduld fehlt.
Aber zurück zur Körperkunst.
Ausdruckstanz ist ja nicht jedermanns Sache, aber angetan haben sollte man sich das schon mal. Martha Grahams Dance Company tanzte mir vor 15 Jahren in der Kölner Philharmonie die Schlacht von Verdun vor. Es irritierte mich, ich gebe es zu.
Keine von den auf der Bühne vollführten Verrenkungen löste nur einen Gedanken an einen Stellungskrieg aus, bei dem eine halbe Million Menschen im Granatenhagel und Gewehrfeuer ihr Leben ließen.
Nach der Pause tanzten sie die Vertreibung aus dem Paradies.
Und etwas, das aussah, als würde eine dünne Frau einen Würfel gebären.
Es ist bestimmt Kunst.
Aber gefallen muss mir das ja nicht.