Als Antonella Bracco nach der OP das Bewusstsein wieder erlangte, war das Erste, das sie auf einem Stuhl neben dem Bett hocken sah, die Psychologin. Sie wusste es sofort, ohne dass man es ihr gesagt hätte, auch wenn es dieses Mal eine andere Frau war.
Die erste hatte sie mit ihrem Schubladenklischees solange zur Weißglut gebracht, dass sie sie am Ende mit vollen Kaffeetassen beworfen hatte.
Sie brauchte keine Psychologin. Aber hier in dem Laden schien man es besser zu wissen.
Und die Fremde im weißen Kittel konnte keiner anderen Profession nachgehen. Obwohl Nelly, belämmert zwar noch von Medikamenten und Narkose, für sich einräumte, dass Weißkittel in Kölner Krankenhäusern so gängig waren, wie in alle Krankenhäusern der Erde.
Es war dieser Gesichtsausdruck nachsichtiger Güte, der Nelly so auf den Zeiger ging, dass sie schneller wieder bei Sinnen war.
Etwas schneller.
Nach dem Unfall war es die sechste OP und eine der längeren. Entsprechend lang war die Narkose gewesen.
Aber er meldete sich bereits, der Hunger. Sie pflegten sie morgens zu operieren, und sie pflegten auch, ihr für den restlichen Tag nichts, absolut gar nicht zu essen zu geben.
Weil die meisten Patienten nach so langen OPs erbrechen, hatte man ihr verschnupft zu verstehen gegeben.
Ich aber nicht, hatte sie geschimpft.
Das wissen Sie doch gar nicht. Naserümpfend hatte die Schwester den Tropf eingestellt.
Nein, dachte sie, das weiß ich nicht. Aber ich passe nun mal nicht in Schubladen.
„Mein Name ist Nadner“, stellte sich die Hirnschlosserin mit pipsiger Stimme vor, „Ich bin hier, um ihnen zu helfen.“
In Nellys Hirnschale schwappte das Narkosemittel. Sie versuchte zu antworten, aber ihr Mund war knochentrocken. Ihr Sichtfeld war beengt und flimmerte an den Rändern. Aber immerhin deutete die Trulla das Trockenschlucken korrekt und reichte ihr ein Glas Wasser.
„Hunger“, stieß Nelly nach einem Schluck aus, „Ich bin total ausgehungert.“
Wie immer nach den OPs, fügte sie in Gedanken hintan.
Was stellen die sich vor?
Dass sie in diesem Zustand befähigt zu einer psychotherapeutischen Sitzung wäre.
Um ihre Unfallfolgen besser verarbeiten zu können?
„Ich glaube nicht, dass man ihnen heute schon etwas zu essen geben kann“, die Hirnschlosserin schlug ein Bein über das andere und saß da, als hätte sie einen Stock anstelle des Rückgrates. Nelly schloss resigniert die Augen.
Benommenheit vortäuschen, dachte sie, Müdigkeit.
Durchaus wieder imstande, in vollständigen Sätzen zu reden, hauchte sie: „Müde.“
Die Brauen der Weißkittelin schossen in die Höhe. Sie schien zu zögern. Dann schraubte sie sich endlich aus dem Stuhl.
Nelly linste zum Rollstuhl am Fußende des Bettes
Die Besucherin ging nicht. Stand vielmehr mit salbungsvoller Miene am Fußende ihres Bettes und schaute auf sie hinunter.
Nelly, die Bettdecke bis ans Kinn gezogen, schielte zu ihrem Rucksack, der auf dem Rollstuhl lag.
„Gut“, die Psychotante gab sich einen Ruck, „Aber morgen werde ich wieder kommen.“
Nein, bitte nicht. Der Ärger darüber versetzte Nelly einen Adrenalinschub. Vorgebend, gleich einzuschlafen, wartete sie, bis die Frau das Zimmer verlassen hatte. Innerlich zählte sie danach bis zehn. Dann schwang sie die Decke von sich und die Beine aus dem Bett. Kreisrunde Schwingungen durchströmten sie. Aber nach weniger als einer Minute war das vorbei.
Sie robbte zum Fußende, bedacht darauf, das frisch operierte Bein nicht zu belasten, und stemmte sich in den Rollstuhl.
Glücklicherweise war das ihr eigener. Ihr erster, geliefert hier her, was der Tatsache geschuldet war, dass der Kack-Unfall bereits vier Monate her war. Bis vor kurzen war das Erlenen des Rollstuhlfahrens schier unmöglich gewesen. Die krankenhauseigenen Dinger waren zu schwer, zu breit, hatten manchmal einen Platten. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Wenigstens ging das mit diesem Ultraleichtmodell besser.
Ausgehungert wie sie war, rollte sie zum Schrank und schlüpfte in ihren Bademantel. Dann kramte sie nach ihrer Geldbörese, öffnete die Tür einen Spalt und linste auf den Gang.
Okay, die Luft war rein.
Rasch glitt sie den Gang entlang, zog auf Höhe des Schwesternzimmers den Kopf ein und resümierte im Aufzug, wie leicht das gewesen war.
Sie war ausgehungert.
In jeder Beziehung.
Weihnachten, Sylvester, Karneval und nun bald auch Ostern im Krankenhaus. Sie musste sich was, überlegen, um hier nicht bekloppt zu werden. Sie las viel und bekam Besuch. Allerlei Leute tauchten hier auf, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Erfreulich, auch wenn sie komische Geschenke mitbrachten. Ihr Chef zum Beispiel brachte ihr gleich zwei Magnum mit.
Das zweite würde schmelzen, derweil ich das erste esse, hatte sie gedacht.
Es schmolz nicht, was im Palmfett der Schokohülle gelegen hatte. Praktisch, so ungesundes Zeug.
Andere kamen nicht.
Deprimierend, aber sie sollten ihr gestohlen bleiben.
Die Aufzugtüren glitten auf.
Aber erst mal essen.
Dass sie permanent so ausgehungert war. Messerscharf, denn sie war nicht auf den Kopf gefallen, hatte sie das auf ihr Untergewicht zurückgeführt, das sie sich in den sechs Wochen Koma unfreiwillig erarbeitet hatte.
Dass sie Raucherin war, hatte sie schlicht vergessen, und es würde noch drei Wochen dauern, bis es ihr wieder einfiele. Aber dann würde sie zu Sebastians Zigaretten greifen, als wäre es das Normalste der Welt.
Auf dem Weg zum Kiosk stellte sie fest, dass draußen die Sonne grell vom Himmel glitzerte. Vielleicht hätte sie besser eine dicke Jacke mitgenommen.
Aber es würde auch so gehen.
Zehn Minuten später hockte sie draußen in der Frühlingssonne. Neben ihr, auf der Parkbank die Tüte mit den letzten beiden Frikadellenbrötchen. Eine Tafel Schokolade lag auch dort.
Es würde noch lange dauern, bis sie ihr altes, schlankes Gewicht wiedererlangen würde. Also rein damit.
Mit einem zufriedenen, ja strahlenden Lächeln saß sie noch da, als ihr Besuch kam. Der sich über nichts wunderte, sich auf die Parkbank sinken ließ und sich eine Zigarette aus der Schachtel fummelte.
„Haben sie dir wieder nichts gegeben?“, nuschelte er.
„Nö, aber das macht ja nichts.“ Ihr Gesicht hielt sie in die Sonne. Ausgehungert nach Freiheit war sie auch. „Auf diese Weise hole ich mir meine Selbständigkeit zurück.“
Er lächelte nur schief und drückte ihr einen Kuss auf. "Was hältst du von Autokino am Samstag?"
Kino? Sie fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen anfing, vor Vorfreude.
Ausgehungert nach Leben war sie auch.
"Ja. Auf jeden Fall."