Sie war erschöpft.
Seit mehr als vier Jahren in interkultureller Mission unterwegs und mit einem Engel verheiratet, der sich in seiner Aufgabe als Weltenlenker auch mehr im Himmelsoktogon herumtrieb, als ihr bei der Kindererziehung zu helfen, empfand sie die halbjährlichen Dursichten der Totenbücher oben in Valaskjalf zunehmend als Belastung. Seufzend trat sie die Gamaschensandalen von den Füßen, ließ sie stehen, wo sie waren, und schälte sich aus dem Brustpanzer. Schon als sie Bifröst hinunter nach Hause marschiert war, war in ihr die Idee herangereift, oben einen Antrag auf Teilzeit zu stellen. Sie würde mit Lysander darüber reden, wenn er mal von der Arbeit kam, ob sie als Halbtags- oder Dreiviertelwalküre arbeiten sollte. Zumindest bis die Kinder aus dem Gröbsten raus waren. Sie stieß die Tür zum Garten auf, blinzelte in die warme Septembersonne, deren Strahlen Licht und Schatten auf dem Wiesengrün spielten. Während sie den Garten nach den Zwillingen absuchte, eine Hand am Blatt der Terrassentür, war sie mit den Gedanken noch bei diesen Überlegungen, die sich verfestigten. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn. Dass sie hier in der Nähe von Florenz bleiben mussten, lag auch nur daran, dass in den Uffizien der Eingang zur Hölle lag, in die sie den Verschwörer vor vier Jahren verfrachtet hatten. Aber er konnte jederzeit wieder neues Leid über sie und die Menschheit bringen.
Wo waren die Jungs?
Sie scannte das Areal um den Pool herum ab, in dem eine Ente und ein Schwan schwammen. Verärgert zog sie die Nase kraus. Ente? Schwan? Bei allen Asen, wer hatte die denn wieder angeschleppt?
Sie tippte auf Leander, aber egal, beide musste sie ins Gebet nehmen, nachher war der Pool voller Entengrütze, und wer machte das wieder weg?
Nicht Lysander, der musste ja die Welt lenken, zumindest den Teil, für den er zuständig war, und was heißt… ins Gebet nehmen?
Sie dachte ja schon, wie er. Und überhaupt, den Antrag würde sie gleich schreiben. Gemäß § 18 Absatz 1. Satz 2 des Asgardbeamtengesetzes in Verbindung mit § 32 des BiFröVG……Verdammte Axt, wo waren die Jungs. Sie blinzelte.
Da!
Bei Thor, was war mit denen los?
Aneinandergedrängt kauerten sie am Stamm der riesigen Schirmpinie, die am Ende des Gartens vor dem Bereich mit den Olivenbäumen stand, und zitterten wie Espenlaub. Sie lief los. Bremste scharf ab, drehte um und stürzte in die Diele, wo sie ihren Speer vermutete. Leander und Davide waren nicht leicht zu erschrecken, kein Wunder, bei den Eltern. Es war ernst. Und es waren ihre Kinder.
Fahrig, auf den Zehenspitzen stehend, tastete sie auf der Hutablage herum. Nein, da war er nicht. Davide fing zu weinen an, panisch. Ihr Mutterherz krampfte sich zusammen. Auf den Speer würde sie verzichten müssen. Als sie herum schwang, riss sie eine Hutschachtel mit, und zwei von Lys dämlichen Brokatumhängen verhedderten sich derart im Schirmständer, dass der umfiel.
Stimmt! Sie war schon fast draußen und raste wieder zurück. Der verfickte Speer war im Schirmständer. Jetzt greinte auch Leander. Flugs riss sie die Waffe an sich und düste hinaus. Bei den Kindern angekommen rannte sie gegen eine unsichtbare Wand und hielt verblüfft inne, den Speer noch wurfbereit erhoben. Die Wand war eine wabernde Masse, die zu durchdringen weder sie noch der Speer imstande waren. Dahinter eine Wüstenei, karg und elend, bespickt mit knorrigen, blattlosen Bäumen, silberlichtig und kalt, westlich eines süßlich dampfenden Sumpfes. Sie lenkte den Speer. Nach was roch der?
„Mamma?“, wisperte Leander, aber sie drehte sich nicht um, um in seine tränennassen dunklen Augen zu sehen. Sie überlegte. Allzu bedrohlich war das ja nicht, und die Jungs normalerweise, wie gesagt, keine Jammerlappen, was also versetzte sie derart in Schrecken?
Und warum kam ihr das Fremde so vertraut vor?
In der flimmernden Luft der Blase durchdrang zuerst nichts die Stille als ein langer Atem.
Dann sah sie es endlich. Oder ihn. Einen Reiter.
Bedrohlich in schwarzem Gewand, die Sense in der Rechten, nebelumwabert. Krähen kreisten vor einem Antlitz, das einem Totenkopf gleichkam. Sie entspannte die Muskeln, ihre Schultern sanken hinab.
„Was soll die Scheiße?“, schrie sie, und sofort brach die Blase auf. Ihre Kinder sprangen zu ihr, drückten sich links und rechts an ihren Körper, die angstgeweiteten Augen noch auf dem Mann, der näher kam. Es stank kreuzerbärmlich nach diesen Erkältungsbonbons, die sie ihnen gab, wenn sie einen Infekt hatten. Mit Aas hatte das wenig zu tun.
„Ist das… ist das der apokalyptische Reiter, von dem Papa erzählt hat?“, hauchte Davide, der immerhin nicht mehr weinte.
„Nein“, sie strich ihm mit der freien Hand über den Schopf. „Das ist… sieh genauer hin.“
Leander, der das bereits tat, hatte sich mutig von ihr gelöst und machte einige kleine Schritte auf den Neuankömmling zu. „Es ist nur ein Steckenpferd!“, rief er, noch unentschlossen ob er lachen oder wütend sein sollte.
Luisa hatte sich längst entschieden.
„Was soll das?“, brüllte sie zornig. „Ich verstehe, dass du mit deinen Neffen spielen willst, aber gleich eine Atmosphäre des Niedergangs und der Verwesung zu simulieren!“
Mittlerweile war die Aura verpufft. Sie bildeten nur noch eine substantielle Gruppe aus zwei erleichterten Kindern, einer wütenden Frau in Tunika mit Speer… und Loki, dessen schwarzer Umhang sich als sein obligatorischer Ledermantel entpuppt hatte, und um den nicht einmal mehr die Krähen kreisten. Eine war schon getürmt und lugte hinter den Loungemöbeln auf der Terrasse hervor. Die andere stakste verlegen um die Pinie.
„Und dass Hugin und Munin den Mist mitmachen!“
„Luisa“, fing Loki an, und wurde sofort niedergebrüllte: „Als apokalyptischer Reiter auch noch! Eine der grauenhaftesten Gestalten aus der Kultur ihres Vaters!“ Aufgebracht fuchtelte sie zu den Jungs, die sich das Steckenpferd unter den Nagel gerissen hatten und beäugten.
„Eukalyptischer!“ Loki grinste und zauberte einen Beutel Eukalyptus-Bonbons hervor.
„Wie?“ Sie blinzelte verwirrt.
„Eukalyptischer Reiter. Ich weiß, was meine Neffen am liebsten mögen.“ Mit der Hand strich er das schwarze Haar nach hinten und zwinkerte verschmitzt.