„Warum nicht?“ Oliver, der sich über den Esstisch zu seinem Vater hinübergebeugt hat, reibt sich fahrig die Stirn. Er hat nicht geahnt, wie schwer es würde, den Mann davon zu überzeugen, in diesem Haus für den Keller, die Haustür und den Dachboden ein Schloss anbringen zu lassen, für das man nur einen Schlüssel braucht. Es wäre nur logisch, statt, wie bisher, zusammengenommen mit dem Wohnungsschlüssel, mit vier Schlüsseln am Schlüsselbund herumzulaufen. „Die einzelnen Wohnungen haben weiterhin einen eigenen Schlüssel.“
„Ob das rechtens ist? Dann können die ja überall hin.“ Vater verschränkte die
„Die?“ Oliver erwischt sich dabei, sich verstohlen die Haare zu raufen, und nimmt die Hände ruckartig vom Kopf. „Die Leute haben die zweite Wohnung gekauft. Sie gehört ihnen. Sie haben jedes recht dazu, überall hinzudürfen.“
„Ich werde meinen Anwalt einschalten.“
Olivers Schultern sacken hinab.
„Und was ist daraus geworden?“ Talvi, die alle Gläser auf dem Tisch mit Wasser vollgießt, wirft Oliver einen neugierig-resignierten Blick zu.
Er zuckt mit der Schulter. „Wir haben immer noch vier Schlüssel.“
„Er kommt nicht damit klar, dass ihm nun nicht mehr beide Wohnungen gehören“, resümiert sie. Sie sinkt ins Sofa, dreht ihr Wasserglas nachdenklich in den Händen. „Es geht um Machtverlust.“
In den weit geöffneten Augen Olivers spiegelt sich die Ratlosigkeit. Trotzdem nickt er. „Ich weiß.“
„Ihr müsst kommen!“, ruft Maren. „Ulli hat…Oh, Gott! Wir haben hier eine Anzeige wegen Fahrerflucht!“
„Fahrerflucht?“ Marion reißt die Augen auf. „Fährt er denn noch Auto? Ich, meine, er ist 94.“
Maren haspelt rasend schnell. „Es sah ja immer gut aus. Er behauptet ständig, er käme blendend allein zurecht, und ich schwöre dir, Marion, man hat nichts gemerkt. Florian, den er manchmal von der Schule abholt, meint, Opa würde ganz normal fahren.“ Sie fängt zu weinen an. „Bitte kommt her. Allein kriege ich ihn nie überzeugt, den Führerschein abzugeben.“ Sie schluchzt. „Oder in ein Heim zu ziehen.“
Mit dem Telefon am Ohr sinkt Marion schwer auf den Küchenstuhl. Es sind 890 Kilometer zu fahren, sie hat einen Vollzeitjob, zwei studierende, aber noch im Haus lebende Kinder und einen pflegebedürftigen Ehemann.
„Ja“, seufzte sie dann. „Ich muss sehen, dass ich Urlaub kriege. Aber erklär mir das doch mal mit der Fahrerflucht.“
„Also, er fuhr über die Hauptstraße und touchierte einen parkenden Wagen, als ein Polizeifahrzeug direkt hinter ihm war. Sie haben ihn aufgefordert, anzuhalten. Aber er fuhr einfach weiter!“ Marens Stimme schraubt sich immer weiter in die Höhe. „Schwerhörig!“, schreit sie, als ob Marion schwerhörig wäre. „Er scheint die Polizei dann abgehängt zu haben“, erklärt sie dann ruhiger. „Steuerte das Auto in die Hecke neben seinem Haus, ging rein und öffnete der Polizei, die wenig später bei ihm klingelte, die Tür nicht. Und jetzt liegt hier ein Brief von der Staatsanwaltschaft.“
„Wir haben uns schon Immobilien in der Nähe von Ringkøbing angeschaut.“ Oliver starrt in sein Wasserglas, als läge auf dessen Grund die Antwort auf alle Fragen. „Wir könnten weg. Aufhören zu arbeiten, hier alles abstoßen. Stattdessen fahren wir dreimal die Woche mal zu ihren, mal zu meinen Eltern. Um eigentlich nichts zu machen. Vielleicht Rasenmäher oder so."
Mit einem Blick aus dem Wohnzimmerfenster, dahinter trübes Grau und durch die Regenschlieren kaum wahrzunehmende geflutete Blumenkübel, weiß Talvi genau, was er meint. In Ringkøbing würde es jetzt zwar auch regnen, aber wenn das Ollis und Barbaras Traum ist, dann ist das zu respektieren. Sie sehnt sich nach wärmeren Gefilden, aber auch sie können nicht weg.
„Mein Schwiegervater dürfte nicht mehr Auto fahren. Seit dem letzten Schlaganfall im Frühling nicht. Andauernd ruft meine Schwiegermutter an, um uns zu erzählen, wie schlimm er fährt, aber er weigert sich, das Autofahren aufzugeben. Wir leben in ständiger Sorge, dass er Mist baut“, wispert sie.
„Und dann ist da noch…“ Leise stöhnend presst sie sich an die Rückenlehne des Sofas, unschlüssig, wie sie das erzählen soll, weil es Unsinn war, nichts als Unsinn. Wie ihr Vater sich beim Sofakauf im Möbelhaus weigerte, die vereinbarte Anzahlung zu leisten und stattdessen nur eine leisten wollte, die fünfzig Euro niedriger war. Nur so. Aus keinem besonderen Grund. Bloß Machogehabe. Kontrollbedürfniss. Dabei geht es ihnen noch gut. Solveigs Vater hat Alzheimer, der verliert wirklich die Kontrolle.
Im Wartezimmer.
„Was machen wir hier eigentlich?“
Solveig, steif auf dem Stuhl sitzend, schenkt ihrem Vater einen blauäugigen Blick. „Du hast einen Termin.“ Das sagte ich dir gestern, heute Morgen und vor fünf Minuten.
„Warum?“ Vater rutscht unruhig auf dem Sitzmöbel.
„Weil die Blutwerte nicht so klasse waren.“ Das sagte ich dir gestern, heute Morgen, und vor fünf Minuten.
„Welche Blutwerte?“ Er schiebt die Hände unter die Oberschenkel.
Als sie dem Arzt endlich gegenüber sitzen, fragt der jovial. „Wie geht es uns denn heute, Herr Dr. Hebel.
„Herr Dr. Bauernfreund?“, fragte Solveigs Vater.
Dr. Bauernfeind, in einer Hand den Kuli, nickt.
„Wie soll es mir schon gehen?“
„Wie fühlen Sie sich denn?“
„Keine Ahnung.“ Vaters Blick hetzt zu Solveig. „Waren wir hier schon mal?“
Ja, hier waren wir schon mehr als einmal.
Sie möchte gerne weg. Ganz weit weg.
Was machen eigentlich Leute, deren Kinder schon vor zwanzig Jahren nach Neuseeland ausgewandert sind?
Oder die, die keine Kinder haben, so wie sie.
Unterdessen, in Talvis Wohnzimmer, dudelt das Telefon, und sie springt auf, weil es eine Weile dauernd wird, bis sie das Schnurlose gefunden hat. Auf dem Display haben sie schon vor langer Zeit ein Bild eingepflegt, das angezeigt wird, wenn ihre Schwiegereltern anrufen, und das Erich Honecker zeigt. Erich mit dem sozialistischen Gruß. „Ja“, sagt sie angestrengt freundlich und wird sofort niedergebrüllt. „Hach! Was bin ich froh, dass ich einen erreiche! Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll!“
Oh Gott, denkt sie. Ihr Puls schnellt in die Höhe, irgendetwas musste passiert sein. Ein neuer Schlaganfall vielleicht? „Ist was mit…“
„Ich habe hier einen Brief aufgesetzt!“, fährt ihre Schwiegermutter aufgeregt fort. „Ich kann den nicht drucken und ich hab Angst, dass der gleich weg ist!“
„Weg?“ Talvis Puls normalisiert sich. Zurück bleibt Ärger, darin ein kleiner Funken Wut. „Wo soll der denn hin sein?“
„W-was? Äh, weg, wenn ich den PC ausmache.“
Talvi wandert telefonierend ins Arbeitszimmer. Dabei fällt ihr Blick auf die kleine Reiseschreibmaschine, die sie beim Leerräumen des Hauses von Solveigs Mutter entdeckt haben und die nun am Schrank lehnt. Vielleicht wäre es besser, wenn ihre Schwiegermutter eine Schreibmaschine hätte. Anstelle des PCs.
„Das kannst du doch speichern“, presst sie raus.
„Aber wo denn? WO denn?“
„Ich sag Tim Bescheid. Der ruft dich gleich an, wenn unser Besuch weg ist.“ Sie hat keine Lust, zu erklären, wo man bei Word speichert.
Nach dem Telefonat wippt sie eine Weile träge im Schreibtischstuhl, schaut aus der gläsernen Tür in den Garten, in dem die Regentropfen das Wasser im Teich aufwühlen. Der Pegel ist schon wieder gestiegen. Alles ist klamm und nass. Wie gerne wäre sie jetzt am Meer.
Verstohlen fingert sie nach ihrem Smartphone, das auf der Schreibtischplatte ruht und zieht es zu sich rüber, um auf die Wetterapp zu schauen. San Felice, vierzehn Grad, kein Regen. Morgen achtzehn Grad. Keine Knochenschmerzen, keine Kopfschmerzen, keine Nervenschmerzen – einfach Wetter und Landschaft. Der Berg, die Wolken, der unendliche Himmel…
Wieder seufzt sie. Denkt an Solveigs Mutter, die nach einer Woche im Pflegeheim nachts die Polizei angerufen hatte, weil ihr angeblich niemand dort helfen würde. Die behauptet hatte, dass sie aus dem Bett gefallen wäre und liegen gelassen wurde, und die deshalb die Rettung und die Polizei…
Solveigs Mutter kann gar nicht mehr laufen. Und wenn die Geschichte wahr gewesen wäre, hätte sie das Telefon, mit dem sie für das nächtliche Chaos im Pflegeheim gesorgt hat, gar nicht erreichen können.
Bis zum Hausverkauf hat Solveigs Mutter überhaupt kein Geld. Und trotzdem…
Einmal im Monat schleppen zwei Boutiquen aus der Umgebung ihr gesamtes Warenangebot ins Pflegeheim und machen aus der Cafeteria eine Boutique, in der die Dame 240 Euro ausgegeben hat, die die Heimleitung vorlegte. Als Solveig danach zu Talvi kam, rief sie: „Zweihundertvierzig Euro, die ihr nicht gehören! Die sie nicht hat! Meine zweihundertvierzig Euro! Wir haben im Haus gefühlt zweitausend Stück Klamotten in den Altkleidercontainer geworfen, weil sie sagte, das könnte alles weg! Und jetzt kauft sie…“
Und der grün-silbern geschmückte Adventskranz mit LED-Kerzen.
Es musste grün-silbern sein, nichts sonst. Aber so etwas gab es nicht zu kaufen, weshalb sie und Solveig bei Depot hundertsechszig Euro gelassen hatten, um abschließend zwei Stunden einen Adventskranz zu basteln, der so schön war, dass sie im Pflegeheim von jedem darauf angesprochen worden waren.
Das Smartphone legt sie auf den Tisch zurück und reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. „Was da noch alles kommen mag?“, wispert sie.
Wieder läutet das Telefon. Ein Blick auf das eingepflegte Bild von Renate und Heinz Lohse beim Blockflötenspielen zeigt ihr an, dass es ihre Eltern sind. Sie nimmt das Gespräch an. „Ja, Mama, wir haben gerade Besuch“, beginnt sie sofort. „Ist irgendwas?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich wollte nur fragen, wann wir uns morgen treffen.“
„Nach deinem Sport?“, schlägt Talvi vor. „Kurz nach 12 Uhr?“
„Ja, in Ordnung. Bis dann.“
Danach stemmt sich Talvi auf und kehrt ins Wohnzimmer zurück, wo Oliver Fotos auf seinem Smartphone betrachtet. Sein sehnsuchtsvoller Blick zeigt ihr, dass er in Dänemark ist. Wo er jetzt lieber wäre, und von wo aus sie im Sommer am liebsten nicht zurückgekehrt wären.
Wie gut sie ihn versteht.
„Eigentlich“, sagte er, während er aufschaut und zu ihr hin, „eigentlich sollten wir wirklich alle weg.“
„Ja, ich weiß. Aber…“
„Man macht es einfach nicht.“