Es gibt Menschenmassen und Menschenmassen. Die, die mir missbehagen, und die, ohne die ich nicht sein kann, ohne ein Teil von ihnen zu sein.
Morgens um sieben, geduscht und frisiert, wühlt sie die Klamotten des Tages aus ihrem kleinen Reisekoffer, steigt rein, schnappt sich die Handtasche, deren Inneres sie nach Zigaretten kontrolliert, schließt die Tür und durchquert die Lobby des Hotels.
„Ciao, Jana.“ Daniele, hinter seinem Tresen grüßt lässig.
„Ciao. Alles klar?“ Sie bleibt stehen, um ein paar Worte zu wechseln, lacht, und tritt hinaus. Die Schwüle trifft sie wie ein Schlag, den sie einsteckt, ihn einatmet, wie den frühmorgendlichen Geruch der Stadt. Kurz hält sie inne, denn das, dessentwegen sie so früh aufsteht, ist bereist in vollem Gange. Menschen.
Die erwachende Stadt sind die Menschen in ihr, die aus ihren Löchern kriechen und ihr Tagewerk beginnen. Oder bereits gekrochen sind. Wie der Zulieferer der Boutique gegenüber, der beim Paketeschleppen mit der Mitarbeiterin plauscht. Laut und gestenreich über das Lärmen der Arbeit hinweg.
Ein Bus rast vorbei. Aus den Fenstern schauen müde Schüler. Oder in ihr Smartphone. Gegenüber vor der Bank steht ein Geldtransporter mit klackenden Blinkern. Ein Uniformierter steigt ein, der Wagen braust davon. Die Luft ist anders. 7 Uhr früh, 23 Grad, Luftfeuchtigkeit 75 %, d.h. man kann sie atmen, trinken muss man sie noch nicht.
Jana lächelt in sich hinein, läuft los, zielfokussiert, als wäre sie Teil all derer, die ihren Jobs, der Schule oder Verpflichtungen entgegenstreben. Direkt zu auf das Café gegenüber des Domes, wo sie sich in der Außengastro, die leer liegt, einen Stuhl herauszieht und einen Cappuccino bestellt. Sie bedankt sich, als er gebracht wird, zündet sich eine Zigarette an und lehnt sich in den Stuhl zurück.
Der Stadt beim Erwachen zu sehen.
Kein Teil davon zu sein.
Beobachten.
Das ist es, was sie liebt, denn sie hat einen scharfen Blick für die Geschichten, die sie erzählt. Aufschreiben muss sie nichts. Die Bilder entstehen von selbst, sie hat es immer so gemacht. Zusehen, wie andere leben. Was nicht bedeutet, dass sie kein Leben hätte.
Das, was sie hat, ist erfüllend, doch mit dem Beobachten hört sie nicht auf, wenn sie gleich zu ihrem Leben gehen wird. Zurück ins Hotel, um dort mit den anderen zu frühstücken.
Ihr entgeht einfach nichts, nie, wenn es mit Menschen zu tun hat.
Aber dieses Beobachten hat eine völlig andere Qualität. Die Müllwerkerin, die die Tonnen neben den Marmorbänken in den kleinen elektrobetriebenen Müllwagen entleert, singt leise. Libiamo, aus La Traviata, zwar schräg, aber textsicher, während sie neue Tüten in die Eimer hängt. Jana bezweifelt, dass deutsche Müllwerker Wagners Walküre singen würden, und lächelt leise in sich hinein.
Gegenüber, vor dem Dom, hält der Wagen, der die Carabiniere ausspuckt, die den ganzen Tag, die Waffe im Anschlag, den Dom bewachen. Oder die Menschenmengen davor. Man weiß es nicht. Auch nicht genau vor was. Vermutlich vor Terroranschlägen.
Eine junge Frau fährt einen Kinderwagen mehrfach um das Baptisterium, wohl um das greinende Baby darin zu beruhigen.
Jana nippt an ihrem Kaffee. Der Himmel ist diesig, aber er täuscht nur Milde vor. In weniger als zwei Stunden wird die Sonne den Dunst aufgefressen haben. Sie wird gnadenlos sein, was die Anzugträger nicht zu stören scheint, denn vermutlich sind Autos und Büros klimatisiert.
Oh, Pandora bekommt neuen Schmuck. Ein gepanzertes Fahrzeug hält vor dem Shop, der Uniformierte Fahrer aber trifft eine Bekannte, die es zuerst eilig gehabt hat, aber nun stehen bleibt. Während des Gesprächs wischt sie sich die Haarsträhnen hinter die Ohren. Lacht. Hüpft förmlich beschwingt von dannen, nachdem sie sich verabschiedet haben und die Rollade des Zeitungsverkaufskiosks rechts des Baptisterium rasselnd hochgezogen wird.
„Scusa.“ Ein Kunde der Bar, im Anzug, stürzt ins Innere und hat ihre Tasche umgemäht, die neben dem Tisch auf dem Boden steht.
Sie hebt eine Hand. „Da niente.“
Der Mann trinkt einen schnellen Kaffee, einen Espresso, wirft Münzen auf den Tisch und enteilt hektisch, aber palavernd.
Aufschreiben muss und will sie nichts. Was sie sieht, wird unwiederbringlich in ihr Hirn gefräst sein, und manchmal dauert es Jahre, bis sie eine Geschichte daraus macht.
Wie damals, aus dem betrunkenen einsamen Mann im Weihnachtsmannkostüm, der mit einer Flasche Wodka auf der Marmorbank auf der Piazza della Republica saß. Es war Heiligabend, der 25. Dezember. Mild, sechszehn Grad, feucht.
Die Luftballons, die er über den Tag nicht verkauft hatte, stiegen neben ihm als Bündel auf.
Unauslöschlich wie der verteufelt bestrickende Bursche, der zwei Jahre später, im Sommer, die Via Tornabuoni entlang hastete. Im Anzug, maßgeschneidert, so wie der saß, und mit einer Ledermappe unter dem Arm. Er sprang in einen Maserati, den ihm irgendein Dienstleister aus der Mietgarage geholt haben musste.
Der Mann hat keine Ahnung, dass er jetzt Lorenzo Braccio heißt. Ebenso wenig weiß der Weihnachtsmann, dass Jana das Problem seiner Einsamkeit gelöst hat.
In einer Geschichte, denn das tun sie hier. Die Menschen. Sie verknüpfen Geschichten, die nicht ihre eigenen sind. Es aber durchaus sein könnten. Sie können erfreulicher enden als ihr alltägliches Leben. Oder dramatischer. Oder lustiger. Aber Jana verknüpft. Nicht nur Äußerlichkeiten, auch Eindrücke, und mitunter sind Menschen erschütternd leicht zu durchschauen.
Sie hebt die Brauen, als sie einen Blick auf den Dom wirft, der sich strahlend hell vor ihr präsentiert, und vor dem sich die ersten Touristen einfinden. Ein Blick auf die Uhr. Es ist Zeit zu gehen, bevor die Menschenmengen summend darauf warten, eingelassen zu werden. Sie winkt den Kellner herbei, wechselt ein paar unverbindlich freundliche Worte, bezahlt, und geht. Den Rückweg legt sie rascher zurück, denn sie muss die anderen zum Frühstück wecken.
Weil sie schon fertig mit allem ist, wartet sie, bei einem zweiten Cappuccino im Innenhof, in dem sie zu frühstücken pflegen. Weil sie Freunde des Hauses sind, ist das gestattet, denn normalerweise beklagen sich die Bewohner der Häuser, deren Wände zwei Teile des viereckigen Hofs begrenzen, über den Radau, den die Touristen machen. Die Menschenmengen. Sie schnaubt belustig, rührt Zucker in den Kaffee, der zuerst auf der Crema liegenbleibt.
Beobachtet.
Auch jetzt.
Winkt Giulia, die hinter der Glastür die kleinen Mozzarelle aufs Buffett stellt. Lächelt den fußkranken Amis, die sich in den Saal schleppen, den sie nur durchs Fenster sehen kann, unverbindlich zu.
Bald werden sie in Rom sein, und sie wird es wieder so machen. Weil es nichts Schöneres gibt, als einer Stadt beim Erwachen zuzusehen, denn dann ist sie noch halb nackt, ungeduscht und schlecht frisiert schlichtweg sie selbst.
Die Stadt.
Aber gleich, nach dem Frühstück, wird sie aufstehen und eine Symbiose eingehen. Mit den Menschenmengen. Teilhabend Teil werden.
"Warum machst du das immer?" Steffi wirft sich auf den grünen Metallstuhl neben sie, stellt die Tasse ab, die sie mitgebracht hat und grüsst Jana mit einem Kuss.
"Weil ich sie liebe. Weil ich Menschen liebe. Ich glaube, es ist etwas Grundsätzliches."