„Nimm noch die lange Hose. Fürs Winter-Joggen“ Sallys Hand zuckt zum Kleiderständer, und Sebastian, der den Arm voller Asics Sportklamotten hat, fängt an, nach einer in seiner Größe zu suchen, bevor er auch damit in der Umkleide verschwindet, die groß genug ist, dass sie mit rein kann.
„So, jetzt schnellen Sex“, albert er, als er aus der Hose schlüpft.
Sie kichert, windet sich aus seiner Hand. Ernst hat er das ja nicht gemeint, weshalb er nacheinander in Laufshort und Shirts steigt, und auf dem Bänkchen der Umkleide Kleiderberge stapelt.
Mitnehmen, hier lassen – and so on.
Eine halbe Stunde später, sie schlendern durchs Designer Outlet Roermond, Hand in Hand, sagt er: „Willst du zu Desigual. Oder noch woanders rein?“
„Ne.“ Andeutungsweise schüttelt sie den Kopf. „Ich brauch‘ keine Klamotten. Habe letzte Woche Benetton in Florenz geplündert.“
Abrupt bleibt er stehen, kramt nach seinem Handy. „Würdest du das bitte wiederholen? Damit ich es aufzeichnen kann?“
Lachend versetzt sie ihm einen Tritt. Aber es ist klar, dass sie jetzt noch einen überteuerten Burger essen gehen, und dann heimfahren. Das hier war ein gezielter Ausflug, weil er neue Joggingklamotten braucht.
Absichtlich unter der Woche, jenseits irgendwelcher Ferien und am Nachmittag.
So ist es schön leer.
Wenn man nicht irre ist, fährt man ja auch nicht in den Ferien in den Zoo.
Oder Pfingsten mit dem 9 Euro-Ticket irgendwo hin.
Die Menschen werden ihr immer ein Rätsel bleiben. Unbegreiflich, warum sie so was machen.
Irgendwo auf Höhe Dolce & Gabbanas, die einzigen hochpreisigen Designer, die sie je tragen würde, wenn sie steinreich wäre, läutet das Telefon. Noch mit vor Lachen gespannten Wangen und dem Blick auf das Zitronenkleid – das Zitronenkleid von D & G ,von dem sie schon seit Jahren träumt-
kramt sie nach dem Handy, um einen Blick drauf zu werfen. Der wandert zwischen dem Kleid und dem Handy hin und her.
„Du kannst es dir kaufen“, haucht ihr Sebastian ins Ohr. „Das ist das Schöne, wenn man eigenes Geld verdient.“
Ihr Lächeln wird irgendwie scheu. „Ne, es ist viel zu teuer.“
Ein Blick aufs Handy. Sabine. Sallys Brauen schießen in die Höhe. „Ich muss sie zurückrufen.“
„Mach‘“ Er pflanzt sich auf die Bank vor D & G. „Aber das Kleid wär‘ drin.“
„Eine Apple Watch wäre auch drin. Und? Habe ich eine? Man muss nicht alles haben, was man schön findet. Oder nützlich.“
Das Lachen in ihrer Stimme verflüchtigt sich. Wenn Sabine anruft, kann es ernst sein. Neben Sebastian wartet sie darauf, dass das Gespräch angenommen wird.
„Ja? Du hattest angerufen.“
„Es ist so weit.“ Bienes Stimme kratzt sich durch die Leitung. „Die Ärzte haben gesagt, Stefan und seine Mutter sollen Abschied nehmen. Sie wollen die Maschinen ausstellen.“
„Ach.“ Eine lange Pause. „Es ist besser so, das weißt du.“
„Ja, das weiß ich!“, schreit es durchs Telefon. „Und trotzdem!“
Ja, und trotzdem…
Sally wirft einen Blick in den unfassbar blauen Himmel. Ein Sportflugzeug brummt über sie hinweg. Neben ihr zündet sich Sebastian eine Zigarette an. Sie blickt zu Boden, sieht Füße in teuren Turnschuhen, Fragmente von Einkaufstaschen. Hört Lachen, Gesprächsfetzen.
Aber Jan stirbt.
Was ist, denkt sie, wenn alles hier nur Imagination ist?
Sie reden noch ein wenig, trösten einander, beenden das Gespräch mit dem Versprechen, erreichbar zu bleiben, aber die Idee, die Sally umschlingt, wird in ihrem Griff fester.
Was, wenn wir uns das alles nur einbilden?
Ihr Blick bohrt sich in das Zitronenkleid, das eine Idee von Amalfi, den Duft von Zitronen verspricht. Der Schnitt erinnert stark an die 50er.
Alles nur ein Traum.
Die 50er Jahre ein einziger Eskapismus.
Sebastian tastet nach ihrer Hand. „Geht los, was?“
Sie nickt.
Sabines Schwiegervater stirbt. Alle alten Menschen tun das, aber mit 69 wäre er dafür eigentlich zu jung. Es war ein Drama – Krankheit, auf die sich immer eine neue Katastrophe pfropfte, alle irrevisibel, und als er bewusstlos wurde… keiner weiß, wie er aus dem Koma wieder aufgewacht wäre.
Dann kollabierten nacheinander Nieren, Leber, eine Sepsis dazu, künstliche Beatmung, und mit der Behandlung des Krebs hat man nicht mal angefangen
Und wir sitzen hier. Die tiefstehende Sonne wärmt unsre Stirn.
Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.
Der Griff Sebastians wird fester. „Weißt du noch, wie wir alle zusammen den Grand Prix geguckt, und auf einem Zettel selber Punkte vergeben haben?“
Die Trauer, der Abschied beginnt mit Erinnerungen.
Sie lächelt schmal, mit dem Blick auf dem Zitronenkleid. In welchem Jahr das war, weiß sie nicht mehr. Aber es war in Sabines und Stefans Wohnzimmer, mit Stefans Eltern, von denen ein Teil gerade stirbt. Solchen Spaß hatten sie gehabt. Alle auf Raffael Gualazzi mit Madness of love getippt, aber am Ende hatte der nur den zweiten Platz gemacht. Gewonnen hatte irgendein osteuropäischer Drama-Song- schwülstig, unerträglich.
Sie erinnert sich an Jans verblüfftes Gesicht.
Und wie sie gelacht haben.
Die Osteuropäer…
Städte in Schutt und Asche.
Was ist, wenn unser Leben nur eine Imagination ist?
„Vielleicht ist es besser so.“
Verdutzt schaut sie Sebastian an. „Natürlich ist es das. Und so ist das, was vor uns liegt, auch für Stefan endlich Urlaub. Nach all den Wochen braucht er ihn dringend.“
Das hatten sie alles geplant. Verschiedene Varianten. Entweder fährt Sabine mit den Kindern alleine mit oder Stefan ist dabei. Unentwegt hätte er die Hand am Telefon gehabt, in Erwartung eines Anrufs seiner Mutter. Sie haben schon Rückflüge aus Rom, Pisa und Neapel für ihn ausgeguckt, für den Fall, dass er heim musste, weil sein Vater gestorben war, aber so…
…ist es für alle besser.
Sally, die inzwischen an Sebastians Schulter gelehnt das Zitronenkleid betrachtet, wispert: „Mir kommt das alles so unwirklich vor.“
„Dass er stirbt? Menschen sterben, Maus. Das werden wir auch.“
„Nein, das meine ich nicht.“ Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Unser ganzes Leben. Wie gut es uns geht.“
Aleppo in Schutt und Asche hatte sie auch schon so verstört. Die hungernden Kinder im Jemen krallen sich schon lange in ihr Herz, und der Hunger, der der Welt bevorsteht, weil die Seeminen der Ukraine vor Odessa eine Ausfahrt der Abermillionen Tonnen Getreide verhindern, wird die nächste Katastrophe sein.
Was die Wahrheit ist, weiß schon lange keiner mehr.
Religionskriege, Machtspielchen, Bürgerkrieg, Bomben, Flüchtlinge – menschenverachtendes Gebaren in der Mitte Europas gegenüber Flüchtenden mit anderer Hautfarbe.
Wir schaffen das.
Ja, würden wir geschafft haben, wenn es diese Vollpfosten nicht gäbe, die ausgrenzen, herabsetzen, ja -hassen.
Rechtsradikale, verblendete Spinner, und die Wolfsrune auf der Uniform des Asow-Regimentes, die aber negiert wird. Nein, nein, das sind keine Nazis mehr, schon seit 2015 nicht mehr, wir haben die ganze Führungsriege ausgetauscht.
Brennende Häuser, Menschen, die mit ihren Katzen auf dem Arm über die Trümer einer einstmaligen Brücke kraxeln. Aber immer noch Runen.
Alles wirbelt durcheinander. Völlig egal ob Bagdad, Aleppo oder Luhansk. Ihr ist das egal. Menschen sind Menschen.
Schlagzeile Tagesschau online: Wir fühlen uns den Menschen näher, die uns am ähnlichsten sind.
Aha, soso, verstehe. Deshalb gibt es gute und schlechte Flüchtlinge?
Bilder, Worte, Fetzen…
Das Zitronenkleid verschwimmt. Sie drängt sich näher an Sebastian, der den Arm fester um sie schließt.
„Ich denk‘ grad an ein Lied von John Lennon“, keucht sie.
„Imagine no possession“, summt er leise. „I wonder if you can
„No need for greed or hunger“, fällt sie leise in den Gesang ein. „A brotherhood of man“
„Imagine all the people“
„Sharing all the world“ Sie singen lauter, als er sich hochschraubt, die Hand nach ihr ausstreckt. „You May say I‘m a dreamer…“, singt er dabei.
Sie lässt sich aufziehen. „But I‘m not the only one. „
Hinein in den D & G - Laden, in dem eine niederländische Angestellte auf sie zu prescht. „Das Kleid mit den Zitronen im Fenster“, erklärt er ihr.
„Welche Größe?“
„Das größte, das sie haben“, erklärt Sally, die sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen wischt. „Ich neige nicht dazu, nur an Salatblättern zu lecken.“
Die Verkäuferin lacht, und zieht beschwingt die Größe 42 aus dem Ständer.
„Und wenn es eine Illusion ist“, haucht Sebastian in Sallys Ohr. „Ist es immer noch unsere.“