Ray zog den Kragen ihres schwarzen Mantels enger um den Hals. Der eisige Wind verfing sich in ihrem hohen Pferdeschwanz und spielte mit den langen Strähnen des rotblonden Haars. Die junge Frau presste die Lippen fest aufeinander, während sie eilig auf das Friedhofstor zusteuerte.
Bereits aus einiger Entfernung konnte sie die zahlreichen Trauergäste erblicken, die sich um die Grabstätte versammelt hatten. Beinah unwirklich wirkten ihre düsteren Silhouetten vor dem einheitlichen Weiß des Winters, der seine pudrige Decke über die Welt gelegt hatte.
Zwei Stunden, sagte sich Ray zum wiederholten Mal. Zwei Stunden würde es dauern, dann würde sie diesen Ort wieder verlassen können und in ihr normales Leben zurückkehren. Nur zwei Stunden!
Sie erreichte die Trauergesellschaft und nickte einigen bekannten Gesichtern im Vorbeigehen zu, ehe sie sich einen Platz ganz am Rande suchte, an dem sie hoffte, am wenigsten aufzufallen.
„Sehr verehrte Angehörige“, begann der Priester in ebendiesem Moment und Ray senkte den Kopf, während sie den Worten lauschte und es vermied jemanden anzusehen. Alles was sie wollte, war nicht allzu bald bemerkt werden und diese Veranstaltung so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie hasste Beerdigungen und wenn es der gute Ton nicht verlangen würde, würde sie diesen Ort meiden wie keinen zweiten. Doch Ray hatte ihre Familie in den letzten Jahren schon genug gegen sich aufgebracht, weshalb sie nun nicht auch noch Öl ins Feuer gießen wollte, indem sie der Beerdigung ihres Cousins fernblieb. Sie mochte von Lucas gehalten haben, was sie wollte, doch diese zwei Stunden würde sie ihm opfern können.
„Rose?“ Ein Mann war unbemerkt an ihre Seite getreten und legte ihr nun die Hand auf die Schulter. Augenblicklich trat Ray einen Schritt zurück, um sich der Berührung zu entziehen. Sie sah kurz auf und nickte ihrem Bruder Isaac in einem stillen Gruß zu. Seine violetten Augen weiteten sich, während er auf sie herabstarrte und nach Worten zu suchen schien. „Du…“, stammelte er und fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar. Diese Geste, die den muskulösen Mann so seltsam hilflos wirken ließ, hätte Ray zu einem anderen Zeitpunkt sicher zum Schmunzeln gebracht. Jetzt jedoch zuckte sie nur nichtssagend mit den Schultern, ehe sie sich an Isaac vorbeidrückte und genau wie die anderen Trauergäste an das Grab herantrat.
Ein weißer Sarg war darin hinabgelassen worden, doch Ray wusste, dass er keine Leiche enthielt. Von den sterblichen Überresten ihres Cousins war nach seinem Tod nichts mehr übrig geblieben, wie es bei ihrer Art üblich war. Und doch war es Tradition, zwei Jahre nach dem Todestag eine solche Trauerfeier abzuhalten, um dem Verstorben Dinge ins Jenseits hinterher zu schicken, von denen die Angehörigen glaubten, er würde sie brauchen.
Schweigend griff Ray in die steinerne Schale, nahm einige rote und schwarze Rosenblütenblätter zwischen die Finger und ließ sie auf den Sarg hinabrieseln. „Jeder bekommt, was er verdient“, murmelte sie tonlos, ehe sie sich abwandte und zu Lucas‘ Mutter trat. Ihr Gesicht war tränennass, doch sie lächelte schwach, als Ray ihre Hand drückte.
„Rose“, sagte die großgewachsene Frau und strich ihr über den Handrücken. „Wie schön, dich zu sehen.“
Ray schluckte, nickte schließlich kurz und entzog sich ihrer Tante dann.
Kaum war sie jedoch zwei Schritte zurückgetreten, da wurde sie erneut am Arm gefasst. „Rose“, zischte ihr Bruder und zog sie beiseite. Seine Augen, die nur eine Nuance dunkler waren als ihre eigenen, musterten sie eindringlich. „Wie geht es dir?“
„Bestens“, antwortete sie knapp und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hasste es, wenn Isaac sie so ansah, wie er es in diesem Moment tat. Dieser Blick machte sie wieder zu dem kleinen Mädchen, das sie vor so vielen Jahren einmal gewesen war und nie wieder hatte sein wollen.
„Du hast dich nicht gemeldet“, sagte Isaac jetzt und legte seine Hände auf ihre Schultern. Ray hörte den stummen Vorwurf in seiner Stimme.
„Viel zu tun“, erwiderte sie nur ausweichend.
„Und Mum und Dad?“, hakte ihr Bruder weiter nach.
Sofort versteifte Ray sich und presste die Lippen fest aufeinander. Sie musste nicht einmal den Kopf schütteln, denn Isaac verstand sie auch so.
„Ach, Blümchen“, seufzte er und zog sie in seine Arme. „Du hast mir gefehlt.“