Lee saß an Rays Krankenbett und streichelte unentwegt über ihren Handrücken.
Die Not-Operation hatte sie laut Aussage der Ärzte gut überstanden. Nun blieb nur abzuwarten, ob sie auch wieder aufwachen würde. Seit Stunden wich Lee nun schon nicht von ihrer Seite, aber bisher hatte sie sich nicht ein einziges Mal gerührt.
Seufzend fuhr er sich mit der freien Hand über das Gesicht, als es an der Tür klopfte. „Herein?“, rief er und blickte erwartungsvoll hinüber.
Die Klinke wurde heruntergedrückt und Bastian, Cam, Ruby und Taye traten ein. Sie alle nickten ihm grüßend zu und Ruby drückte sich an der kleinen Gruppe vorbei, um zu ihm herüber zu kommen. Sie beugte sich zu Lee hinunter und umarmte ihn fest. „Wie geht es ihr?“, fragte sie dann als sie sich wieder aufrichtete und musterte die schlafende Ray besorgt.
„Unverändert“, erklärte Lee leise und seine Schwester richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn. „Und dir?“
„Mir geht’s gut.“ Er winkte ab. Seine Verletzungen waren längst verheilt und er machte sich einzig Sorgen um Ray.
„Wir haben ein paar Klamotten für euch beide mitgebracht“, meldete sich Taye zu Wort und hob einen Stoffbeutel in die Luft. „Danke.“ Lee nickte und stand auf. Er nahm den Beutel von seinem Schwager, streifte den Arztkittel ab, den er sich geliehen hatte, und zog dann ein frisches T-Shirt über.
„Was sagen die Ärzte?“, fragte Cam, als Lee sich wieder auf seinen Platz an Rays Seite begeben hatte.
„Sie hat die Operation gut überstanden. Aufwachen muss sie nun von allein“, erklärte er, behielt dabei aber eine Sache für sich. Wenn Ray endlich wieder bei Bewusstsein war, wollte er zuerst mit ihr darüber sprechen, ehe er es seinen Freunden sagte. Er wollte einfach nicht, dass sie es von jemand anderem erfuhr als von ihm.
„Was ist überhaupt passiert?“, fragte Ruby und ging hinüber zu Taye, der sich auf einen der Stühle gesetzt hatte, die an einem kleinen Tisch standen. Sie ließ sich auf seinen Schoß sinken und Bastian und Cam taten es dem Paar gleich.
Lee verzog das Gesicht. „Ich bin über die Terrasse in das Haus gelangt und wollte mich dort ein wenig umsehen. Als ich im Flur angelangt war, hat es einen ohrenbetäubenden Knall gegeben. Ich vermute, mein Trommelfell ist dabei gerissen. Irgendwie muss ich bewusstlos geworden sein, möglicherweise hat mir auch einer der Mistkerle eins übergebraten. Ich kann mich aber nicht daran erinnern.“ Er zuckte mit den Schultern, denn eigentlich war es auch egal. „Als ich wieder aufwachte, befand ich mich in dem Zirkel. Neben Isaac und Ray.“ Er stutzte. „Wo ist Isaac überhaupt?“ Er hatte angenommen, dass er nach seiner Schwester würde sehen wollen.
„Ähm.“ Bastian räusperte sich und tauschte kurze Blicke mit den anderen. Dann fuhr er sich durch das kurze, schwarze Haar, wie es so typisch für ihn war.
„Was?“ Lee runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier doch nicht.
„Naja“, setze Bastian an und verzog das Gesicht. „Nachdem du weg warst, haben wir uns noch etwas in dem Haus umgesehen. Isaac hat uns dabei geholfen und eine geheime Tür entdeckt.“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Als Isaac den Gang dahinter betreten hat, hat er eine Art Falle ausgelöst und fiel einen Abgrund hinunter.“
„Was?“ Lee riss erschrocken die Augen auf. „Ist er…?“
„Nein!“, fiel Bastian ihm rasch ins Wort. „Ich konnte zwar nicht bis zum Grund blicken, denn es war einfach zu dunkel, aber ich habe noch mit ihm gesprochen und ihm gesagt, dass wir ihn da rausholen.“
Erleichtert nickte Lee. Er kannte Isaac zwar nicht besonders, aber er vermutete, dass er ein recht anständiger Kerl war. Zumindest anständiger als die meisten Dämonen. Und für Ray wäre es entsetzlich, wenn sie erfahren müsste, dass ihr Bruder gestorben war, während sie bewusstlos gewesen war.
„Jedenfalls bin ich dann zum Wagen gegangen. Wir holten einige Seile, um zu Isaac hinunterzuklettern. Aber als wir zurückkamen, antwortete er nicht mehr“, fuhr Bastian fort. „Ich bin dann runter, aber da war niemand.“
„Was?“ Irritiert runzelte Lee die Stirn. „Wie kann das denn sein?“
Bastian zuckte mit den Schultern. „Wir haben da unten eine ganze Weile suchen müssen, aber dann noch eine verborgene Tür gefunden“, erklärte er. „Sie führte in das angrenzende Waldstück, aber von Isaac fehlt uns seither jede Spur.“
„Glaubt ihr, dass er abgehauen ist?“, fragte Taye an Bastian gerichtet.
„Es wäre eine Möglichkeit“, bestätigte der, doch Lee konnte sich das nicht vorstellen. „Er würde Ray nicht im Stich lassen!“, sagte er deshalb entschieden.
„Und das ist auch die Sache, die mir zu bedenken gibt“, murmelte Bastian und sah Lee dann offen an. „Als ich mit ihm sprach, wirkte er auf mich ehrlich um sie besorgt. Ich habe schon verdammt viele Dämonen getroffen, aber irgendwie war er anders.“
Lee nickte. Er verstand, was sein Freund meinte.
„Jedenfalls glaube ich, dass die Dämonen ihn vielleicht doch noch geschnappt haben könnten“, beendete Bastian seine Ausführung und Lee fluchte leise. So beschissen diese Alternative auch war, so befürchtete Lee jedoch, dass das passiert war.