Lee hielt ihren schmalen Körper eng an sich gepresst als er sie beide in den entfernten Stadtteil teleportierte. Erst als er sich vergewissert hatte, dass sie sicher stand, lockerte er seinen Griff. Dennoch konnte er sich nicht dazu durchringen, sie sofort vollständig loszulassen. Er genoss ihre Nähe und wollte jede Sekunde auskosten.
Einige Sekunden verstrichen, dann räusperte Ray sich schließlich und löste sich von ihm.
Sofort nahm er seine Arme von ihrer Taille und trat einen Schritt zurück.
Ray sah sich kurz um, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Ich bin noch nie teleportiert.“ Sie betrachtete ihre Hände, als müsse sie überprüfen, dass diese vollständig geblieben waren.
Lee lächelte. „Wir können es gern jederzeit wiederholen.“ Er musste gestehen, dass er diesen Vorschlag nicht uneigennützig tat, aber das würde er ihr ja nicht auf die Nase binden müssen.
Sie sah zu ihm auf und einen Moment dachte er, sie würde etwas erwidern. Dann jedoch schien sie es sich anders überlegt zu haben. „Zu meiner Wohnung geht es hier lang“, erklärte sie, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon.
Langsam schlenderte Lee hinter ihr her und hielt bewusst ein wenig Abstand. Es gefiel ihm, dass er ihre wiegenden Hüften auf diese Weise ungeniert betrachten konnte.
Ihr langer Zopf schwang bei jedem Schritt hin und her und Lee verspürte plötzlich große Lust die seidigen Strähnen durch seine Finger gleiten zu lassen. Er seufzte. Wenn er sich nicht langsam ein bisschen zusammenreißen würde, würde er gleich anfangen zu sabbern.
Rasch schloss er deshalb zu Ray auf, als diese gerade um die nächste Hausecke bog. Vor einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus blieb sie schließlich stehen, kramte in ihrer Jackentasche und zog einen Schlüsselbund hervor. Als sie die schäbige Haustür aufschloss, schossen Lees Augenbrauen nach oben. Hier lebte sie?
Schweigend folgte er ihr in den düsteren Hausflur, der seine besten Zeiten wohl auch schon einige Jahrzehnte lang hinter sich hatte. Die Treppe machte ebenfalls keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck, doch er bemühte sich, all diese Dinge zu ignorieren, während er hinter Ray die Stufen hinauf stieg.
Vor einer braunen Tür im dritten Stock blieb sie schließlich stehen. Der Lack blätterte an unzähligen Stellen von dem schmuddeligen Holz, aber das Schloss schien, als sei es gerade erst eingebaut worden. Ray öffnete die Tür und deutete ihm mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Als sie den Lichtschalter betätigte, wurde der kleine Flur ihrer Wohnung in warmes Licht getaucht und Lee staunte nicht schlecht. Augenblicklich hatte er das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Rasch zog er die Wohnungstür hinter sich zu und ließ seinen Blick über die kleine weiße Gardarobe mit der Sitzbank und den großen verschnörkelten Standspiegel schweifen. Es sah so hübsch aus, dass er kaum glauben konnte, dass diese Wohnung in einem solch schäbigen Haus verborgen lag.
Ray zog die Jacke aus und hing sie an einen der freien Haken, ehe sie die weiße Tür gegenüber der Wohnungstür öffnete. „Du kannst hier warten“, sagte sie, während sie in den Raum hineintrat. „Ich brauche nicht lange.“
Neugierig ging Lee hinter ihr her und lugte in das ebenfalls sehr gemütlich aussehende Wohnzimmer.
Es war klein, denn für mehr als eine helle Couch, ein Schränkchen mit einem Fernseher darauf, einem Bücherregal und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen, war kein Platz. Aber dennoch konnte Lee sich vorstellen, dass es sich hier gut leben ließ. Langsam ging er hinüber zum Esstisch und nahm auf einem der Stühle Platz. Dabei beobachtete er Ray, die in einem angrenzenden Zimmer verschwand. Die Tür ließ sie angelehnt, doch Lee widerstand dem Drang, ihr auch in ihr Schlafzimmer zu folgen. Wortlos stützte er die Hände auf den Tisch und wartete auf sie, während seine Gedanken abschweiften. Er dachte daran, wie er sie am Vorabend auf der Beerdigung gesehen hatte. Ihr Anblick hatte ihn so überwältigt und er hatte sofort gewusst, dass sie seine Gefährtin sein musste. Die Tatsache, dass sie eine Dämonin war, hatte ihn ehrlicherweise ein wenig aus der Fassung gebracht. Aber als sie dann festgestellt hatte, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte… Irgendwie kam es Lee so vor, als sei genau das ein weiteres Zeichen dafür, dass er sich nicht geirrt hatte. Es konnte doch kein Zufall sein, dass ihre Fähigkeit ausgerechnet bei ihm versagte.
Die wenigen Stunden, die er inzwischen mit ihr verbracht hatte, hatte er mehr als genossen. Ihre Nähe war für ihn beruhigend und elektrisierend zu gleich und er mochte es, sich mit ihr zu unterhalten. Wenn er noch ein wenig mehr Zeit mit ihr verbringen würde, würde sie hoffentlich ähnlich empfinden. Aber während er sie von sich zu überzeugen hoffte, durfte er auch nicht vergessen, was sie war. Sicher, auf ihn machte sie bisher nicht den Eindruck einer kaltblütigen, egozentrischen Dämonin, aber doch gehörte sie nun einmal einer Art an, an der er bisher noch keine guten Seiten hatte finden können.
Lee seufzte leise. Er vertraute dem Schicksal und seinem eigenen sechsten Sinn, aber ganz sicher war er kein dummer Mann. Er würde vorsichtig sein müssen und seinen Gefühlen auf keinen Fall die volle Kontrolle über seinen Verstand überlassen dürfen.