Ray seufzte. „Aha. Dein Plan scheint also noch ausbaufähig zu sein.“ Sie ließ sich auf die Bettkante sinken und schlug die Beine übereinander, während Lee wiederwillig nickte.
„Ich vermute, es ist keine gute Idee, wenn ich einfach schnell Heim fahre und ein paar Sachen zusammenpacke?“, fragte sie, obwohl sie ahnte, dass das der Ort sein würde, an dem die Jäger zuerst nach ihr suchen würden. Es könnte natürlich auch sein, dass sie nichts von ihrer Wohnung wussten, doch Ray wagte nicht das zu hoffen.
„Nein, ich denke, im Moment wäre das keine gute Idee“, bestätigte Lee ihren Verdacht. „Aber ich könnte gehen und dir besorgen, was du brauchst.“
Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie seinen Vorschlag hörte. Noch nie hatte Ray jemanden in ihre Wohnung eingeladen. Egal an welchem Ort sie in den letzten Jahren gelebt hatte, ihr zu Hause war stets ihr Rückzugsort gewesen und niemals hatte sie eine andere Person an diesem haben wollen.
Der Gedanke, dass nun ausgerechnet ein Vampir es sein sollte, bei dem sie diese eiserne Regel brach, bereitete ihr Unbehagen. Andererseits würde sie einige Dinge benötigen, wenn sie die nächsten Wochen tatsächlich hier verbringen sollte.
„Ray?“ Lee riss sie aus ihren Überlegungen und sein fragender Blick zeigte ihr, dass sie offenbar zu lange geschwiegen hatte. Nervös leckte sie sich über die Lippen. „Könnte ich nicht wenigstens mitkommen?“
Er öffnete den Mund und sie war sich bereits sicher, dass er ablehnen würde, doch dann schien er noch einmal darüber nachzudenken. Er zögerte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. „Na gut, ich denke, wenn wir gemeinsam gehen sollte das in Ordnung sein.“
Sie lächelte erleichtert. Immerhin würde sie ihn dann nicht allein in ihre Wohnung gehen lassen müssen. Er würde warten können, während sie rasch einige Dinge zusammenpackte und dann verschwanden sie wieder.
Mit der Aussicht zufrieden, erhob sich Ray von der Bettkante und griff nach ihrem Mantel. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“
Lee nickte, als genau in dem Moment ein leiser Ton verriet, dass ihr Handy eine Nachricht empfangen hatte.
Überrascht zog sie das Gerät aus ihrer Jackentasche, wobei ihr Lees aufmerksamer Blick nicht entging.
Um ein bisschen Privatsphäre bemüht, wandte sie ihm den Rücken zu, während sie die Kurznachricht öffnete.
Wo bist du? Geht es dir gut? Isaac
Ein Schauer kroch über Rays Haut, als sie an ihren Bruder dachte, der sich offenbar große Sorgen um sie machte. Kurz überlegte sie, ihn anzurufen, doch sie wollte Lee nicht wissen lassen, dass neben ihr noch mindestens ein weiteres Mitglied aus ihrer Familie überlebt hatte. Rasch ließ sie ihre Finger deshalb über die Buchstaben fliegen:
Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie Antwort von Isaac erhielt:
Wo bist du? Das waren verdammte Jäger und du weißt, was das bedeutet! Mum und Dad haben es nicht geschafft...
Sie schnappte nach Luft, während sie die Worte noch einmal las. Schon von Lee hatte sie gewusst, dass ihre Eltern wohl nicht mehr unter den Lebenden weilten, doch nun hatte sie Gewissheit.
„Alles in Ordnung?“, meldete Lee sich hinter ihr zu Wort und sie schluckte. Auf keinen Fall durfte sie sich etwas anmerken lassen. Sie wollte ihren Bruder nicht in Gefahr bringen, denn auch wenn Lee möglicherweise bereit war, ihr zu helfen, so glaubte sie nicht daran, dass er auch Isaac gegenüber solchen Großmut zeigen würde.
Aus diesem Grund zwang sie sich zu einem Lächeln, als sie einen flüchtigen Blick über die Schulter warf. „Mein Chef“, erklärte sie knapp.
„Oh“, entfuhr es Lee. „Was arbeitest du denn?“
„Momentan kellnere ich in einem Restaurant“, antwortete sie spontan wahrheitsgemäß und tatsächlich wurde ihr in dem Augenblick bewusst, dass sie diesen Job wohl vergessen konnte, wenn sie sich in den nächsten zwei Wochen nicht blicken lassen würde.
„Mh“, machte Lee ziemlich nichtssagend, doch Ray ahnte, dass er ähnliche Gedanken hatte.
„Wird sowieso Zeit für etwas Neues“, erklärte sie schulterzuckend. Die Arbeit in dem spießigen Sterne-Restaurant mit den angespannten Kollegen und unfreundlichen Kunden war von Anfang an nur als Übergangslösung gedacht gewesen. Sie würde sich einfach etwas Neues suchen.
„Du willst kündigen?“, hakte Lee nach und ihm war deutlich anzuhören, wie unangenehm es ihm war, dass er der Grund dafür war.
„Eigentlich schon seit Wochen“, sagte sie deshalb, da sie unerklärlicher Weise das Bedürfnis verspürte, sein schlechtes Gewissen zu lindern.
„Würdest du mich vielleicht kurz allein lassen?“, bat sie schließlich und deutete auf ihr Mobiltelefon.
„Sicher.“ Lee sah sie einen Moment an und sie meinte, er wollte noch etwas sagen, doch dann drehte er sich herum und verließ das Zimmer.