„Also?“
Lee verzog das Gesicht, als er in Bastians fragendes Gesicht schaute.
Zwei Tage waren nun schon vergangen, seitdem Ray das Apartment verlassen und wieder aus seinem Leben verschwunden war. Zwei Tage, in denen er kaum geschlafen und sich in seiner eigenen Wohnung nicht mehr wohlgefühlt hatte und auch zwei Tage, an denen er sich ausschließlich von Blut und Whiskey ernährt hatte. Wenn das so weiterging, würde er noch zu einem leibhaftigen Penner verkommen.
Wann war er eigentlich das letzte Mal duschen gewesen?
„Nun rede endlich!“, drängte Bastian, der ungeduldig mit dem Fuß wippte, während er auf Lees Couch saß. Nachdem dieser seine Anrufe nicht entgegengenommen hatte, hatte er am heutigen Abend vor seiner Tür gestanden und sich nicht mehr abwimmeln lassen.
„Du siehst schrecklich aus“, hatte er zu ihm gesagt und dann eine Erklärung für seinen Zustand gefordert.
Grimmig platzierte Lee jetzt ein Glas Blut auf dem Couchtisch vor seinem Freund und ließ sich selbst auf den Sessel fallen. „Ray ist weg“, erklärte er in knappen Worten und noch immer schmerzte es ihn, diese Worte auszusprechen.
„Das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Bastian wenig mitfühlend. „Wo ist sie?“
„Heim gegangen, vermute ich“, brummte Lee und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.
„Verständlich, dass sie deinen Anblick nicht länger ertragen konnte.“ Bastian grinste spöttisch, doch Lee fand ihn überhaupt nicht witzig. Er bedachte ihn nur mit einem vernichtenden Blick und Bastian hob daraufhin die Schultern. „Hast du mal in den Spiegel gesehen?“
Nein, das hatte Lee nicht getan. Wieso auch?
„Du hast im Moment große Ähnlichkeit mit einem räudigen Hund.“
„Ist mir egal“, knurrte Lee. Er hatte jetzt wirklich keine Lust über sein Äußeres zu sprechen. Ray war weg und das war das einzige, was im Augenblick für ihn von Bedeutung war.
„Na schön.“ Bastian verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann erzähl mir, was passiert ist.“
Lee seufzte. Er hatte wenig Lust, das Geschehene zusammenzufassen, aber gleichzeitig ahnte er, dass Bastian ihn vorher nicht in Ruhe lassen würde. „Ray hat mir erzählt, dass sie weiß, wer die Geschäfte ihrer Familie übernommen hat.“
„Aber zu Duncan hat sie gesagt, dass sie keine Ahnung hat“, widersprach Bastian.
„Richtig. Weil es sich um ihren Bruder handelt.“
„Oh“, entfuhr es Bastian, der offenbar verstand, dass sie diesen hatten schützen wollen.
„Jedenfalls meinte sie, dass er die Geschäfte nie gutgeheißen hat und sie wollte ihn davon überzeugen, sich da rauszuhalten“, fuhr Lee fort. „Sie wollte zu ihm und mit ihm sprechen, bevor ihr ihn gefunden habt.“
„Und da bist du mit ihr zum Anwesen gegangen?“, mutmaßte Bastian und Lee nickte.
„Wir haben Isaac auch gefunden und Ray hat mit ihm geredet.“ Die Tatsache, dass sie zuvor eine Fähigkeit angewandt hatte, die er vorher noch nie gesehen hatte, verschwieg er dabei vorerst.
„Aber sie konnte nicht zu ihm durchdringen.“ Lee seufzte, als er daran dachte, wie verzweifelt sie geklungen hatte. „Isaac war der festen Überzeugung, wenn er das Unternehmen nicht übernehmen würde, würde es ein anderer tun und er meinte, dann könnte alles noch schlimmer werden als unter der Führung seiner Eltern.“
„Mh“, machte Bastian nachdenklich. „Schlimmer möchte ich mir lieber nicht vorstellen.“
Da musste Lee ihm absolut Recht geben. Er nickte mit ernster Miene.
„Jedenfalls ist Isaac dann abgehauen, als einer seiner Leute ihm sagte, dass ihr unterwegs ward“, vervollständigte Lee seine Ausführungen. „Und dann sind wir hier her zurückgekehrt, Ray hat ihre Sachen gepackt und ist abgehauen.“
„Einfach so?“ Bastian konnte die Tatsachen natürlich nicht einfach so hinnehmen und Lee musste sich eingestehen, dass er auch das bereits geahnt hatte.
„Isaac hat etwas zu ihr gesagt, dass sie sich sehr zu Herzen genommen hat“, brummte er grimmig.
„Und was war das?“
„Er hat ihr vorgeworfen, dass sie ihn verraten hat, weil sie sich mit mir – einem Vampir – eingelassen hat.“ Lee bereute, dass er dem anderen Mann dafür nicht direkt eine verpasst hatte.
„Womit er ja nicht so ganz unrecht hat“, meinte Bastian und Lee schaute zornig zu ihm hinüber. „Sie hat versucht, ihn zu warnen!“
„Ich weiß.“ Abwehrend hob Bastian die Hände. „Aber ich verstehe schon, dass er sich hintergangen gefühlt hat. Schließlich ist sie mit dir dort aufgetaucht.“
Leider fiel Lee nichts ein, was er darauf hätte erwidern können.
„Also ist sie einfach ohne eine Erklärung verschwunden?“, hakte Bastian schließlich nach, als Lee weiterhin schwieg.
Er zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihm zwar erklärt, wieso sie so handelte, aber das änderte schließlich nichts daran, dass sie fort war.
„Und du hast sie einfach gehen lassen?“ Fassungslos starrte sein Freund ihn jetzt an.
„Natürlich nicht!“, schoss Lee zurück. „Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Habe ihr erklärt, dass sie bei mir bleiben soll, weil…“ Er brach ab. Im Moment hatte er keine Lust, Bastian sein verworrenes Lügengestrick zu erklären, was er erfunden hatte, um Ray dazu zu bewegen, bei ihm zu bleiben und ihn besser kennenzulernen. „Jedenfalls hat sie gesagt, dass sie nicht auf meiner Seite stehen kann, wenn diese nicht dieselbe ist, die ihr Bruder einnimmt.“
„Verständlich“, befand Bastian und Lee ließ seinen Kopf nach hinten gegen die Sessellehne sinken. Ja, es war alles absolut nachvollziehbar und trotzdem machte es ihn verrückt!
„Trotzdem begreife ich nicht, dass du jetzt hier sitzt und in dich in Selbstmitleid badest“, sagte Bastian. „Hast du in den letzten achtundvierzig Stunden ein einziges Mal deine Wohnung verlassen?“
„Nein.“
„Das dachte ich mir.“ Bastian schüttelte verständnislos den Kopf. „Sag mal, bist du ein Mann oder eine Maus?“
„Was?“ Lee runzelte die Stirn. Was sollte das denn heißen?
„Du bist ein Vampir, Lee. Keine trauernde Witwe! Also sieh zu, dass du deinen Hintern hochkriegst. Wenn du sie haben sie willst, dann musst du dich eben auch ein bisschen anstrengen!“
Seine Worte waren so direkt, dass Lee einen Moment brauchte, um sie zu verarbeiten.
Vielleicht hatte er tatsächlich Recht und er müsste sich nur genug anstrengen, um Ray für sich zu gewinnen… „Aber sie will mich nicht“, murmelte er und klang sogar in seinen Augen wie ein weinerliches Kleinkind.
„Das sah für mich aber anders aus.“ Spöttisch hob Bastian eine Augenbraue.
„Aber ihr Bruder…“, setzte Lee zu einem erneuten Einspruch an, aber auch diesen schmetterte sein Freund sofort ab. „Wenn sie sich nicht zwischen euch entscheiden will, dann sieh zu, dass du ihr diese Entscheidung abnimmst!“
Wie zur Hölle sollte er das denn anstellen?
Noch ehe er Bastian jedoch danach fragen konnte, erhob sich dieser von der Couch.
„Wenn du Hilfe brauchst, du weißt, wo du mich findest“, sagte er und ging hinüber zur Tür. Für ihn war die Unterhaltung damit also offenbar beendet.
Als Bastian die Klinke bereits in der Hand hatte, drehte er sich noch einmal zu Lee herum und rümpfte die Nase: „Und tu uns allen einen Gefallen. Geh duschen!“