Ray hatte neben Isaac auf der Hollywoodschaukel platzgenommen, die sich auf der Terrasse befand. Isaac stieß sie immer wieder vom Boden ab und so wippten sie in einvernehmlichem Schweigen vor und zurück. Ray hatte sich zurückgelehnt und beobachtete das Profil ihres Bruders, der seinen Blick auf den Waldrand gerichtet hatte.
„Also?“, durchbrach Ray die Stille, denn inzwischen hatte sie ihre Geduld vollkommen ausgereizt.
Sofort erschien ein Lächeln auf Isaacs Zügen und Ray entdeckte das winzige Grübchen auf seiner von Bartstoppeln übersäten Wange. Er drehte sich zu ihr um und zwinkerte ihr zu. „Ich habe mich schon gewundert, dass du auf einmal so geduldig warten kannst."
„Kann ich nicht“, gab sie zu und schämte sich kein bisschen für diese Schwäche, die ihrem Bruder bestens bekannt war.
„Nein“, bestätigte er. „Konntest du noch nie.“
In seinen dunkelvioletten Augen schimmerten Gefühle, die Ray nicht so recht deuten konnte. Aber gerade als sie ihn danach fragen wollte, blinzelte er und lehnte sich dann neben ihr an die Rückenlehne. „Dann sag mir doch mal, was das da zwischen dir und Lee ist, Schwesterchen!“, forderte er in Plauderton, doch Ray versteifte sich augenblicklich. Sie ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, während sie darüber nachdachte, wie sie anfangen sollte. „Ich weiß es nicht genau“, gab sie dann einfach zu, denn genau so war es.
„Was heißt, du weißt es nicht?“, hakte Isaac sofort nach. „Läuft da was zwischen euch oder nicht?“
Rays Wangen begannen zu glühen. Das war nun wirklich kein Thema, über das sie mit ihrem Bruder reden wollte.
Der schien ihr Schweigen allerdings sofort richtig gedeutet zu haben. „Also ist etwas gelaufen“, sagte er.
„Naja“, druckste Ray herum ohne genau zu wissen, wie sie ihr Verhältnis zu Lee erklären sollte. Isaac lachte auf und dann boxte er Ray liebevoll gegen die Schulter. „Du vergisst, meine kleine Rose, dass ich seine Gedanken gelesen habe.“
Erschrocken keuchte Ray auf und starrte Isaac voller Entsetzen an. Das hatte sie allerdings wirklich nicht bedacht! Wenn ihr Bruder Lees Gedanken gelesen hatte, dann hatte er möglicherweise auch etwas davon erfahren, was im Bett zwischen ihnen geschehen war! Himmel!
„Keine Sorge.“ Isaac hob abwehrend die Hände. „Ich bin nicht an Details deines Liebeslebens interessiert“, informierte er sie. „Aber ich weiß, dass er dich mag. Sehr sogar.“
Rays vorheriges Schamgefühl verschwand und nun wuchs das Unbehagen. „Das hat er“, meinte sie und verzog traurig den Mund. „Aber ich habe ihn vor den Kopf gestoßen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich war bescheuert“, gab sie dann kleinlaut zu.
„Weil du ihm gesagt hast, dass du ihn nicht liebst?“, hakte Isaac nach und als sie ihn fragend ansah, tippte er sich gegen die Schläfe. „Ich hab es in seinem Kopf gelesen. Es beschäftigt ihn die ganze Zeit.“
„Toll“, entfuhr es Ray missmutig. Genau das hatte sie nicht hören wollen.
„Aber du hast gelogen“, sagte Isaac jetzt und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Du liebst diesen Vampir.“
Er zog sie an sich und Ray ließ ihn gewähren. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und seufzte. „Ja“, flüsterte sie dann und gab es zum ersten Mal vor jemand anderem zu. Nun konnte sie es nicht mehr zurücknehmen, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, tat es gut, es jemandem anvertraut zu haben.
„Ich weiß.“ Isaac streichelte ihr über das Haar. „Ich merke doch, wie du ihn ansiehst und als du geglaubt hast, du hättest ihn verloren…“ Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Es war schlimm, dich so verzweifelt zu sehen.“
Ray schluckte und die Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie zwang sich dazu, sie zurückzudrängen.
„Sag es ihm doch einfach“, meinte Isaac jetzt und aus seinem Mund klang es so einfach.
„Aber wenn er mich inzwischen gar nicht mehr will?“, sprach Ray ihre größte Angst aus.
„Ich denke nicht, nein, ich weiß, dass du dir darüber keine Sorgen machen musst.“
Ray sah zu ihrem Bruder auf und er grinste breit. „Selbst wenn ich seine Gedanken nicht lesen könnte, wäre es wohl offensichtlich. Er hat dich gewandelt und ist die Blutsbindung mit dir eingegangen. Das macht ein Vampir doch nicht einfach so. Und auch wenn ich mich erst noch an den Gedanken gewöhnen muss, dass meine Schwester jetzt eine Halbvampirin ist, weiß ich, dass er dich glücklich machen wird.“
Ray runzelte die Stirn, während sie unsicher an ihrer Unterlippe nagte. Theoretisch klang das, was ihr Bruder sagte, perfekt. Es war genau das, was sie sich wünschte. Aber auch wenn er meinte, er habe Lees Gedanken gelesen, war Ray doch noch nicht vollkommen überzeugt.
„Es gibt noch etwas anderes, was ich dir erzählen wollte“, fuhr Isaac aber bereits unbeirrt fort. „Etwas, was uns Mum und Dad nie gesagt haben.“
Sofort schellten in Ray die Alarmglocken und als Isaac nun auch noch den Arm von ihrer Schulter nahm, sah sie ihn ernst an. „Was?“
„Du weißt, dass sie nicht viel von der Liebe gehalten haben“, begann er und sie nickte. Ja, sie wusste das. Ihre Eltern hatten immer gesagt, dass es so etwas wie Liebe nicht gab. Für sie war es eine Erfindung der Menschen und sie fanden es höchst amüsant, dass die Vampire so großen Wert auf ebendiese Liebe zu einem Gefährten legten. Für Dämonen war die Liebe eine Schwäche, die es auszunutzen galt. Und genau so hatten sie Ray und Isaac erzogen.
„Ich denke, dass sie uns deshalb nicht gesagt haben, dass auch ein Dämon die Liebe finden kann“, fuhr Isaac fort. „Und, dass es dafür ein eindeutiges Anzeichen gibt.“
„Ein Anzeichen?“ Ray runzelte verwundert die Stirn.
„Ja“, bestätigte Isaac und lächelte. „Einen Hinweis darauf, dass man mit jemandem verbunden ist.“
„Und was soll das sein?“
„Der Dämon, der seinen Gefährten findet, kann dessen Gedanken nicht lesen.“
„Ich kann Lees Gedanken nicht lesen“, murmelte Ray, während ihr der Sinn von Isaacs Worten klarwurde.
Dieser nickte bestätigend. „Ganz genau.“
„Du meinst also, dass das ein Hinweis darauf sein soll, dass wir füreinander bestimmt sind?“, wollte Ray trotzdem noch einmal wissen.
„Ja!“ Isaac grinste sie schief an. „Ich weiß, dass es so ist.“ Er beugte sich vor und drückte Ray einen Kuss auf die Wange.
Dann stand er auf. „Ich gehe wieder rein“, informierte er sie, doch Ray blieb sitzen. „Ich bleibe noch kurz hier“, murmelte sie, während ihre Gedanken wilde Loopings schlugen.