Ray schmiss ihre Reisetasche auf das ungemachte Bett und packte eilig einige Kleidungsstücke hinein. Lee hatte von zwei Wochen gesprochen, für die sie bei ihm bleiben sollte. Sie hoffte nur, dass sie es in dieser Zeit auch schaffen würden, die Vampire davon zu überzeugen, dass sie sie in Frieden ließen. Lee hatte gesagt, sie würden sie am Leben lassen, wenn sie glaubten, dass sie Lees potentielle Gefährtin sein könnte. Es klang plausibel, denn sie wusste, was die Blutsgefährten für Vampire bedeuteten. Dieser Bund war für ihre Art beinah heilig. Und trotzdem hegte Ray Zweifel. Sie hatte noch nie davon gehört, dass ein Vampir einen Dämon zum Gefährten nahm. Oder umgekehrt.
Es war eine völlig absurde Vorstellung, wenn man bedachte, dass sie einfach zu verschieden waren. Und verfeindet seit jeher. Während die Vampire friedlich unter den Menschen lebten und sie beinah als ebenbürtig ansahen, vertraten Dämonen eine ganz andere Einstellung. Für sie zählte nur der eigene Erfolg und Ray hatte schon als kleines Kind gelernt, dass ein menschliches Leben nicht mehr Wert war, als das Leben eines Insekts.
Dank ihrer dämonischen Fähigkeiten konnte sie die Gedanken der Menschen lesen und sie konnte sie beeinflussen, wenn sie es wollte.
Und doch hatte Ray stets das Gefühl gehabt, dass diese Einstellung nicht richtig war. Sie fühlte sich unwohl, wenn sie ihre Fähigkeiten einsetzen musste und hatte es nie über das Herz gebracht, so zu sein, wie ihre Familie es von ihr erwartet hatte. Sie seufzte, als sie ins Bad ging und ihre Hygieneartikel zusammensuchte.
Sie war damals so erleichtert gewesen, dass sie alt genug war, um ihren eigenen Weg zu gehen. Es war hart gewesen, aber sie hatte der Familie den Rücken zugekehrt.
Gerade trat Ray zurück in ihr Schlafzimmer, da riss ein Räuspern sie aus ihren Gedanken. Erschrocken zuckte sie zusammen und sah zur Tür, in der Lee lehnte.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er und lächelte.
Sie stieß langsam die Luft aus, ging dann hinüber zum Bett und packte den Kosmetikbeutel in ihre Reisetasche.
„Alles in Ordnung?“, wollte Lee wissen.
Fragend sah Ray zu ihm hinüber. Was meinte er denn?
„Du hast mehrmals geseufzt“, erklärte Lee seine Frage und sah sie forschend an.
„Oh“, entfuhr es ihr und sie rang sich zu einem Lächeln durch. Es war ihr nicht einmal aufgefallen.
„Ich habe nur…“ Sie suchte nach den passenden Worten, wusste aber nicht, wie sie erklären sollte, was in ihr vorging. „Ich habe nachgedacht“, sagte sie dann schlicht.
Lee nickte, fragte aber nicht weiter nach und dafür war sie ihm ehrlich dankbar.
„Bist du fertig?“, wollte er stattdessen wissen.
Ray sah hinunter auf ihre Tasche und überlegte kurz. Kleidung und Waschsachen waren eingepackt, fehlte nur noch… Sie ging rasch um ihr Bett herum, öffnete die Nachttischschublade und holte ein Buch heraus, welches sie dann noch in ihre Tasche stopfte, ehe sie den Reißverschluss zuzog. „Fertig“, erklärte sie schließlich.
„Gut.“ Lee trat zu ihr und wollte gerade nach dem Riemen der Tasche greifen, doch Ray war schneller. In einer fließenden Bewegung hing sie sich die Reisetasche über die Schulter und verließ das Schlafzimmer.
„Lass mich doch dein Zeug tragen“, rief Lee ihr nach und folgte ihr dabei zurück ins Wohnzimmer.
„Nicht nötig“, gab sie zurück und hatte den Flur schon wieder erreicht. Dort schnappte sie sich noch ihre Jacke vom Haken und griff bereits nach dem Schlüssel, als Lee hinter ihr auftauchte.
Ohne ihren Einwand zu beachten, griff er nach dem Gurt auf ihrer Schulter und zog ihn ihr herunter. Ehe Ray reagieren konnte, hatte er ihr die Tasche abgenommen und sich an ihr vorbei in den Hausflur gedrängt.
Ray setzte gerade dazu an, ihn darauf hinzuweisen, dass sie ihre Habseligkeiten gut allein tragen konnte, da hob er den Zeigefinger. „Lass dir doch helfen. Ich würde mich dann besser fühlen.“
Schmunzelnd verdrehte sie die Augen. Wenn es ihm damit besser ging, würde sie nicht weiter diskutieren. „Na schön“, sagte sie deshalb und schloss die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich ab.
„Wir teleportieren zurück?“, fragte sie dann.
Lees Mundwinkel zuckte und sie ahnte bereits, dass er eine ironische Bemerkung machen wollte, bevor er sagte: „Du kannst es wohl gar nicht erwarten, in meinen Armen zu liegen?“
Ray spitzte die Lippen und zwinkerte ihm zu, ehe sie dicht an ihn herantrat. „Ganz recht“, hauchte sie dann und erkannte, dass sie die gewünschte Wirkung bei Lee erzielte. Der Anflug eines Grinsens war verschwunden und er musterte sie jetzt intensiv.
Einen Moment kostete sie die Spannung zwischen ihnen aus und zog die Stille bewusst in die Länge. Dann tippte sie ihm auf die Brust. „Du bist nämlich tatsächlich ein ganz ausgezeichnetes Transportmittel.“
Die Überraschung, die augenblicklich auf seinem Gesicht erschien, brachte sie zum Lachen. Als er sie dann ganz plötzlich an sich zog, erstarb dieses jedoch, weil sie stolperte und erschrocken in seinen Armen landete. Und dann verschwamm der Flur um sie herum auch schon wieder.