„Also schön.“ Lee nahm die Beine vom Sessel herunter und wandte sich ihr zu. „Hast du einen Freund?“
„Ja“, beantwortete sie seine Frage ohne zu zögern.
„Nein“, widersprach er und lächelte, während er ihren Blick gefangen hielt.
„Bitte?“ Überrascht zog sie eine Augenbraue nach oben. Weshalb widersprach er ihr?
„Ich bin alt genug, um zu erkennen, wenn mich jemand anlügt.“ Er zwinkerte ihr zu und sie schnappte nach Luft, doch ehe sie etwas erwidern konnte, sprach er bereits weiter: „Du hast viel zu schnell geantwortet und auch wenn du nicht wirklich weggeschaut hast, so haben deine Augen doch ein wenig gezuckt.“
Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück. „Man sollte doch meinen, dass Dämonen das Lügen besser beherrschen.“
Ray kniff die Augen zusammen. Tatsächlich hatte sie immer geglaubt, eine recht gute Lügnerin zu sein. Dass Lee sie so einfach durchschaut hatte, war ein ziemlich harter Schlag für ihr Ego. „Na schön, du hast mich erwischt“, erwiderte sie und hob in gespielter Kapitulation ihre Hände. „Ich habe keinen Freund.“
„Ha! Ich wusste es.“
Sie zuckte mit den Schultern und griff nach der Fernbedienung. „Ich habe zwei.“
Lässig schlug sie die Beine übereinander und schaltete durch die verschiedenen Programme, während sie deutlich spürte, dass Lee sie anstarrte. Es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, ihre neutrale Miene zu behalten, aber es gelang ihr wohl ganz gut, denn Lee schüttelte ungläubig den Kopf.
„Zwei?“, hakte er nach und sie hörte den Unglauben in seiner Stimme.
Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu. „Manchmal auch drei oder vier. Aber derzeit genügen mir die beiden.“
Er schnappte nach Luft. „Drei oder vier?“
Sie beugte sich zu ihm hinüber bis ihr Gesicht nur Zentimeter vor seinem schwebte und sah ihm in die tiefblauen Augen. „Zweifle nie wieder an meinen Fähigkeiten, mein Freund“, hauchte sie dann, zwinkerte ihm zu und lehnte sich wieder zurück.
Ganz deutlich konnte sie hören, wie er schluckte. Es dauerte eine Weile, bis er seine Fassung zurückerlangt hatte, aber als er dann sprach, konnte sie seine Belustigung in der Stimme hören: „Da hast du mich erwischt.“
Zufrieden warf sie ihm einen Seitenblick zu, als er gerade von der Couch aufstand. „Also kein Freund“, murmelte er und es klang, als würde er dabei eher mit sich selbst sprechen. „Hast du hunger?“
Überrascht darüber, dass er so plötzlich das Thema wechselte, sah sie zu ihm auf. „Nein“, antwortete sie reflexartig, doch gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie schon seit einer ganzen Weile nichts mehr zu sich genommen hatte. „Vielleicht doch“, gab sie deshalb zu. „Ein wenig.“
Lee lachte auf, zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und schlenderte hinüber in die Küche, während er eine Nummer in das Gerät eintippte.
Nachdem Lee für sie etwas zu Essen bestellt hatte, ging er in die Küche. „Was möchtest du trinken?“, fragte er Ray, die durch die verschiedenen TV-Programme zappte. Sie drehte den Kopf, um ihn über die Schulter hinweg anzusehen. „Solange ich kein Blut trinken muss, ist mir alles andere egal.“
Er schmunzelte und nahm sich einen Blutbeutel aus dem Kühlschrank. „Diesen edlen Tropfen würde ich auch wirklich ungern mit dir teilen“, erklärte er dann und goss den Inhalt in ein Glas, ehe er ihr zuprostete.
Sie rümpfte die Nase. „Ich konnte noch nie verstehen, wie ihr dieses Zeug trinken könnt.“
„Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, schmeckt es gar nicht so schlecht“, gab er schulterzuckend zurück und stellte das leere Glas in die Spüle. „Also, was möchtest du?“
„Nach Hause“, murmelte sie, antwortete aber gleich darauf etwas lauter: „Eine Limonade würde mir genügen.“
Lee ignorierte ihren vorherigen Kommentar, weil er nicht sicher war, ob er überhaupt für seine Ohren bestimmt gewesen war und holte zwei Limonadenflaschen aus dem Kühlschrank. Nachdem er sie geöffnet und jeweils einen Trinkhalm in den Flaschenhals gesteckt hatte, trug er die Getränke gerade zum Tisch hinüber, als es an der Wohnungstür klingelte.
In Vampirgeschwindigkeit hatte er die Tür geöffnet, dem Lieferjungen die köstlich duftende Essenslieferung abgenommen, ihm ein ordentliches Trinkgeld überreicht und sich wieder von ihm verabschiedet.
„Mhhh“, machte Ray und sog den Geruch tief ein, der von den Speisen ausging. „Das riecht verdammt lecker.“
„Das ist es auch.“ Lee platzierte mehrere Kartons auf dem Couchtisch und nahm wieder neben Ray Platz. Dann öffnete er einen Karton nach dem anderen und kommentierte den Inhalt, als habe er ihn selbst zubereitet: „Knusprige Frühlingsrollen, Kartoffelecken, gegrilltes Gemüse, Hähnchen-Nuggets, Süßkartoffel-Pommes, geröstete Rinderfiletstreifen, gegrillte Scampi, chinesische Nudeln, panierter Blumenkohl und Kräuter- und Chilli-Dip.“
Ray zog die Augenbrauen nach oben. „Hast du noch jemanden eingeladen?“
„Ich habe einen gesunden Appetit“, meinte er, zuckte mit den Schultern und nahm sich eine Frühlingsrolle.