Mit einem tiefen Seufzen trat Lee in seine offene Küche, öffnete den Kühlschrank und holte einige Eiswürfel aus dem Frostfach. Als er sie in ein Glas fallen ließ, wandte er sich erneut an Ray. „Jetzt vielleicht etwas zu trinken?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich brauche nichts.“
Schulterzuckend schenkte Lee sich einen Whiskey ein. Er brauchte auf jeden Fall einen Drink. Einen Doppelten.
Als der erste Schluck des bitterkalten Getränks seine Kehle hinunterfloss, schloss Lee für einen Moment die Augen, dann stieß er hörbar den Atem aus und schlenderte zurück in seinen Wohnbereich. Als er Ray gegenüber erneut platznahm, räusperte sie sich. „Deine Zeit ist gleich um.“
Er warf ihr einen kurzen Blick zu und schüttelte dann den Kopf. Plötzlich fühlte er sich furchtbar müde und alt. Noch nie hatte er die 291 Jahre gespürt, die er bereits auf dem Buckel hatte, aber im Moment kam er sich vor wie ein Greis.
„Du wolltest reden?“ Ray verschränkte die Arme vor der Brust. Trotz ihres Wunsches, so schnell wie möglich zu verschwinden, schien ihre Neugier geweckt zu sein. Ihre trotzig vorgeschobene Unterlippe brachte ihn zum Schmunzeln und er genoss es, ihre Geduld noch etwas auf die Probe zu stellen, indem er seelenruhig noch einmal an seinem Whiskey nippte.
„Du kannst nicht gehen“, sagte er dann schlicht.
Sie lachte freudlos auf. „Oh, ich denke doch, dass ich das kann.“
„Nein.“ Entschieden schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, aber es geht um deine Sicherheit.“
„Bitte?“ Sie kniff die Augen zusammen. „Drohst du mir gerade?“
„Im Gegenteil.“ Lee überlegte, wie er ihr den Sachverhalt am besten nahebringen könnte. „Ich will dich beschützen“, gab er dann ehrlich zu.
Ray verzog das hübsche Gesicht. „Danke. Nicht nötig.“
„Ich denke doch.“ Er stellte sein Glas auf den Tisch und stützte die Unterarme auf die Knie. „Du scheinst mich nicht richtig verstanden zu haben. Deine Familie ist tot. Und wenn ich dich nicht von diesem Friedhof weggebracht hätte, dann wärst du es jetzt auch.“
„Woher willst du das wissen?“
Er schluckte. Nun kamen sie zum heiklen Teil dieses Themas, aber Lee war noch nie gut darin gewesen, lange um den heißen Brei herumzureden. Also sollte er auch nicht jetzt damit anfangen. Tief holte er Luft, ehe er erklärte: „Ich gehöre zu den Jägern, die deiner Familie diese Falle gestellt haben.“
Wie erwartet schnappte sie nach Luft. Doch das war es auch schon. Kerzengerade saß sie da und starrte ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal.
Lee musste sich zwingen, ihrem Blick standzuhalten und nicht nervös auf seinem Sessel herumzurutschen. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn anschreien würde, dass sie in Tränen ausbrechen oder sogar auf ihn losgehen würde, aber nichts davon geschah. Sie schwieg und er konnte die Stille zwischen ihnen kaum ertragen.
Vielleicht sollte er sich entschuldigen, ihr sagen, dass er nicht gewusst hatte, dass es sich bei den Dämonen um ihre Familie handelte. Aber andererseits wäre das eine Lüge. Er hatte bereits geahnt, dass sie nicht zufällig bei dieser Beerdigung gewesen war und es tat ihm auch nicht leid, dass die Dämonen vernichtet waren. Die Familie Delour war ihm schon seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Sie spannen Intrigen und versuchten mit allen Mitteln ihre Macht zu vergrößern, wobei sie sich nichts aus dem Leben Unschuldiger machten. Lee hatte nichts als Verachtung für die Mitglieder dieser Familie übrig gehabt.
Zumindest bis er Ray kennengelernt hatte.
Es widerstrebte ihm, in ihr die gleiche machtgierige Dämonin zu sehen, wie im Rest ihrer Familie. Aber ihm war durchaus bewusst, dass er sich Hoffnung machte, wo es eigentlich keine gab. Sie war gefährlich und es war absurd, dass er sie gerettet hatte. Und doch hatte er das Gefühl, das richtige getan zu haben. Er war sich einfach sicher.