Lee hatte keine Ahnung, wohin Ray ihn führte.
Er hatte sie in die Nähe des Anwesens der Delours gebracht, weil er dieses von seiner Zusammenarbeit mit den Jägern kannte. Er war schon einige Male hier in der Nähe gewesen, wenn er mit Bastian verschiedene Dinge recherchiert hatte. Aber nun folgte er Ray, die am Rand des hohen Zaunes entlanglief und ihn in ein Waldstück führte, welches zum Teil ebenfalls zum Grundstück der Familie zu gehören schien.
Schweigend stapfte er neben ihr zwischen den Bäumen entlang und war froh darüber, dass seine Vampirsinne ihm das Sehen bei dieser Dunkelheit ermöglichten. Die Geräusche des nächtlichen Waldes vermischten sich mit dem gelegentlichen Knacken der Äste unter ihren Füßen und Lee fragte sich, wie lange sie hier wohl noch herumirren mussten.
„Wohin gehen wir überhaupt?“, fragte er, da Ray ihm darauf bisher noch keine Antwort gegeben hatte.
„Scht“, machte sie und bedeutete ihm mit dem Finger auf ihrem Mund, leise zu sein. „Wir sind gleich da“, flüsterte sie dann und drückte sich am Stamm einer großen Kiefer vorbei.
Gespannt folgte Lee ihr, bis sie ganz plötzlich stehen blieb. Es geschah so vollkommen ohne Vorwarnung, dass er beinah gegen sie gelaufen wäre.
„Da“, verkündete sie und grinste ihn an. „Da können wir rein!“
Sie zeigte auf eine Stelle des Zaunes, in der sich tatsächlich eine Öffnung befand.
Lee zog die Augenbrauen nach oben.
„Das Anwesen ist sonst sehr gut bewacht. Wenn wir irgendwo einzudringen versuchen, würde ein Alarm losgehen. Wir würden keine fünf Meter weit kommen“, erklärte sie jetzt und ging auf die Knie. „Aber diese Stelle hier, ist defekt.“ Sie kroch durch den Zaun und richtete sich auf der anderen Seite wieder auf. „Komm schon!“
Lee schüttelte schmunzelnd den Kopf, ehe er es ihr nachtat und sich durch den Zaun zwängte. Es fiel ihm nicht ganz so leicht wie ihr, da seine Schultern deutlich breiter waren, aber schließlich hatte auch er es auf das Grundstück geschafft.
Er klopfte sich den Dreck von der Jeans und sah dann erwartungsvoll zu Ray. Erst jetzt fiel ihm auf, wie dämlich es von ihnen gewesen war, keine Waffen mitzunehmen. „Es gibt doch sicher Wachen?“, fragte er und blickte sich suchend um.
Ray zuckte mit den Schultern. „Vermutlich.“
„Vielleicht sollten wir später wiederkommen. Ich glaube nicht, dass es schlau ist, unbewaffnet in ein Dämonennest vorzudringen.“ Um die Wahrheit zu sagen, war es sogar eines der dümmsten Dinge, die er je getan hatte.
„Und wir sollten uns nicht nur um Waffen, sondern auch um Verstärkung kümmern.“
Er machte bereits auf dem Absatz kehrt, stellte aber fest, dass Ray keine Anstalten machte, ihm zu folgen.
„Wenn du dir Sorgen machst, verstehe ich das. Es ist völlig in Ordnung, wenn du zurückgehst. Ich schaffe das auch allein.“ Sie lächelte ehrlich, doch in ihren violetten Augen blitzte etwas auf, das er als Traurigkeit deutete.
„Nein“, widersprach er entschieden. „Ich werde dich auf gar keinen Fall allein hier lassen. Das hier ist der Hauptsitz der Dämonen. Dir könnte etwas zustoßen. Wir sollten…“
Ein trauriges Lächeln auf ihren Lippen brachte ihn zum Schweigen und noch ehe sie sprach, erkannte er seinen Fehler.
„Lee, ich bin eine Dämonin“, sagte sie und betonte jedes ihrer Worte. „Das hier ist das Anwesen meiner Familie. Es ist das Grundstück, auf dem ich aufgewachsen bin. Das hier…“ Sie machte eine Handbewegung, die sowohl den Wald als auch das Anwesen dahinter einschloss. „Das hier bin ich.“
„Nein.“ Er würde nicht akzeptieren, dass sie so sprach. „Das hier ist vielleicht deine Vergangenheit“, sagte er und griff nach ihrer Hand. „Aber es ist weder deine Gegenwart, noch deine Zukunft.“
„Woher willst du das wissen?“ Sie sah ihn auf einmal völlig erschöpft an und Lee verspürte den Drang, sie in den Arm zu nehmen. Doch jetzt war nicht der richtige Moment für so etwas. „Ich weiß es einfach“, sagte er.
„Und nun lass uns deinen Bruder suchen, bevor uns jemand sieht.“
Ray sah so aus, als wollte sie ihm widersprechen, weshalb er hinzufügte: „Ich lasse dich nicht allein! Keine Diskussion. Wenn du bleiben willst, bleibe ich auch.“
„Aber dir könnte etwas zustoßen“, gab sie zu bedenken und ihre Sorge um ihn schmeichelte ihm.
„Ich bin ziemlich schnell“, meinte er. „Und stark.“ Er sah, wie ihre Mundwinkel zuckten und war zufrieden. „Und mit ein paar Dämonen, werde ich es schon aufnehmen können. Denn zufällig bin ich ein Vampir.“
Ray grinste ihn an. „Na schön, Mr. Vampir. Dann los!“
Sie ließ seine Hand nicht los, sondern verschränkte stattdessen ihre Finger mit seinen, ehe sie ihn durch den auf dieser Seite des Zaunes lichter werdenden Wald zog und kurz darauf ein gigantisches Haus vor ihnen auftauchte.
„Dort ist es“, erklärte sie.
„Und dort ist eine Wache“, brummte Lee, der den großgewachsenen Mann vor der Eingangstür entdeckt hatte.
„Und da auch.“ Ray zeigte mit dem Finger in Richtung der Terrasse, auf der ein etwas kleinerer, aber nicht weniger stämmiger Mann hin und her ging.
„Wie lautet dein Plan?“, fragte Lee, doch Ray lief bereits los.
Ehe er einen Gedanken fassen konnte, war Ray bereits aus dem Wald herausgetreten und winkte in Richtung der Männer. „Hey!“, rief sie dabei laut und Lees Kinnlade klappte herunter. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein!